Steven Uhly – Die Summe des Ganzen. Berlin/Zürich: Secession, 2022.
Heißt es nicht eigentlich „show, don´t tell“? Ist das nicht eines der wenigen global anerkannten Grundprinzipien modernen Erzählens: Man soll den Leser:innen nicht vorbeten, was sie zu schlussfolgern haben, sondern sie dazu führen, mitzuempfinden und zu schlussfolgern – nur so wird ein Buch wirklich spannend? Und was macht dieser Herr Uhly da? Er betet einem haarklein die Gedanken seiner Protagonisten vor – sogar, warum sie jeweils sagen, was sie sagen, und wie das Gesagte des Antagonisten jeweils auf sie wirkt – und man folgt dem mit Spaß und Spannung? Was, bitte, ist denn das? – Es ist ein schöner Beleg dafür, dass, wer sein Metier beherrscht, sich um dessen Regeln nicht mehr zu scheren braucht.
Vorstellungen, Ideen und Gedanken stehen hier im Mittelpunkt eines veritablen Thrillers
Dieses wunderschön gestaltete Bändchen ist ein Kabinettstückchen moderner Literatur. Ein Stück aus Gedanken und Gesprächen: Es entwickelt sich im Beichtstuhl, in dem Lucas eine Sünde beichten will, die er noch gar nicht begangen hat, aber sicher begehen wird. Doch er kommt nicht zur Sache. Der Priester Roque drängt ihn nicht zu gestehen, wird aber immer neugieriger, zumal er mehr und mehr von Ahnungen getrieben wird, in welche Richtung es geht und um welche Sünde es sich handeln wird. Das wird so exzellent vor den Leser:innen-Augen entfaltet, dass man es mit viel Spannung und ja, auch viel Vergnügen liest. Bis zu dem Augenblick, in dem klar wird, um was es geht: Pädosexualität. Wir lesen gerade die Beichte eines Mannes, der Geschlechtsverkehr mit Kindern, mit Jungen sucht. Der diese Sünde (und dieses Verbrechen) aber noch nicht begangen hat. Und wie es der Zufall will, ist der Priester – bislang kennen wir ihn nur als etwas gelangweilten Beichtvater und als begeisterten Chorleiter – ist der Priester also ebenfalls recht angetan von einem seiner jugendlichen Sänger, ist er dem Beichtenden also emotional und von der Anlage her sehr nah.
Grenzüberschreitung im Beichtstuhl
Aus dieser Konstellation brechen unerhört wichtige philosophische und auch religiöse Fragen hervor: Kann ein Priester Sünden vergeben, die noch gar nicht begangen sind? Kann er auf potenzielle Täter einwirken? Und wie? Und kann er Sünden vergeben, wenn er sich so sehr in die Psyche des Täters einfühlen kann, dass er den Sünder in sich selbst erkennen muss? Wenn er dieselben Sünden begangen hat? Man folgt den Gesprächen wie den Gedanken der beiden Protagonisten mit großer Spannung.
Lucas trifft jenseits des Beichtstuhls einen Nigerianer, ausgestoßen von seiner Familie, weil er sich an einem Nachbarmädchen „vergangen“ hat und zu schwach war, die Verantwortung für seine Handlungen zu übernehmen. In Europa verdient er seinen Lebensunterhalt dann als Drogenhändler. Ja, Menschen sind schwach. Alle.
Weitere Fragen tauchen auf: Wenn es kein Gesetz gibt, gibt es dann auch keine Sünde? Erschafft das Gesetz nicht eigentlich die Sünde (das Verbrechen)? Doch das Gesetz ist heilig. So steht es in der Bibel. Ist es die Bibel, die die Sünde erschafft?
Was nötigt eigentlich zur Sünde, zum Verbrechen?
Und dann dieser unerhörteste Gedanke der Pädophilendiskussion: Besteht die Möglichkeit, dass das Kind tatsächlich etwas für den Täter empfindet? Etwas wie Zuneigung, Liebe gar? Angenommen, es ist möglich: Was sagt das dann über den Täter aus? Dieses Argument der kindlichen Liebe, vorgebracht als Entschuldigungsversuch: Steigert es nicht noch die Schuld des Täters? Schließlich hat er bewusst und gezielt Zuneigung und Liebe im Kind erweckt, Gefühle also, die über den Tag hinaus weisen – im vollen Wissen, dass seine eigene Zuneigung keinen Bestand haben wird, weil er ja pädophil ist, der „Geliebte“ jedoch aus seinem Beuteraster hinauswachsen wird. Der Täter wird sich neue Opfer suchen – das Opfer bleibt auf der Strecke, als noch zusätzlich, auch von den eigenen Gefühlen betrogenes Opfer. Das ist noch bitterer, noch abscheulicher und kann das Opfer womöglich noch schwerer traumatisieren.
Und es tauchen noch weit mehr Fragen auf
„Die Summe des Ganzen“ ist ein sehr gedankenreiches Buch, bei dem sich solch eminent wichtige Fragen ganz natürlich aus der jeweiligen Situation ergeben. Fast schon schlimm, dass es sich so spannend liest; man neigt dazu, es zu schnell zu lesen. Denn es lohnt sich, den hier aufgeschlüsselten Gedanken und Argumentationssträngen zu folgen, und es regt dazu an, eigene Überlegungen anzustellen. Darüber hinaus – und ganz abgesehen vom Thema – liest man das Buch tatsächlich gerne; es hält nicht wenige Überraschungen bereit. An jeder Zeile merkt man, dass Uhly ein Meister ist.
Der Vergleich
Jan Costin Wagner, Einer von den Guten – Steven Uhly, Die Summe des Ganzen. Zwei Männer, die sich fast gleichzeitig mit dem Thema Pädosexualität auseinandersetzen. Ihre Werke können kaum unterschiedlicher sein: Wagner zwingt die Leser:innen, sich in den Täter einzufühlen und sich mit ihm (und der Unausweichlichkeit und zwanghaften Wiederholung seines Tuns) auseinanderzusetzen und abzufinden. Das ist unerhört quälend und nachhaltig belastend. Uhly liefert ein Stück Literatur, dass man einfach genießt – bis man dann merkt, worum es eigentlich geht. Anschließend tastet man mit ihm das ganze Bezugsfeld dieser Verbrechen ab, mit enorm weitem Horizont. Immer neue Fragen tauchen auf (Ist Buße überhaupt möglich? Was ist, wenn Rache versucht wird? …), und als Leser:in wird man ständig in Versuchung geführt, die eigenen Fragen hinzuzufügen. Eine Parallelität im Thema also, die aber zu erstaunlich unterschiedlichen Ergebnissen geführt hat. Ich möchte auf keine der Leseerfahrungen verzichten.
Beide hat unsere Jury bei 889FM Kultur im Oktober 2023 zur Literatur des Monats gekürt. Die Punktebeurteilung sagt bei der Summe des Ganzen nicht so viel, weil Uhly mangels Leseexemplaren nicht von allen Juror:innen gelesen werden konnte.
Steven Uhly – Die Summe des Ganzen. Berlin/Zürich: Secession, 2022. 156 S. ISBN 978-3-96639-048-4