Sebastian Guhr: Der spanische Esel.
Ein Roman, im Ernst? 81 Druckseiten, ein Erzählstrang, vier Protagonisten, die keine Wandlung durchleben: „Roman“? Auch wenn der Verlag diesen Gattungsbegriff auf das Cover drucken lässt (Marketing?), möchte ich den Text doch lieber als Erzählung verstehen, denn wenn er ein Roman wäre, wäre er … nun ja, dann wäre das ein wenig zu wenig.
Das Buch
Das Buch selbst ist ein kleines Meisterwerk. Der Buchrücken aus schwarzem Leinen. Das Cover wird beherrscht von Orange- und Rottönen („Orange ist die Farbe, die wir alle zuerst sehen“ – der erste Satz dieser Erzählung). Dazu die Motive des Textes: Esel und Pistole, Flasche und Rotwein, Wolke und Bischofsgewand. Fadenheftung, angenehm eierschalengetöntes Papier, schöne Schrifttype: schön gesetzt, angenehm zu lesen. Eine typographische Spielerei mit Schriftarten in der Titelei, die dazu verleitet, die Wörter gegen den Strich zu lesen: charmant, absurd -> surreal. Es passt alles zusammen. Es ist eine Freude.
Wenn ich ein Buch lese, dann lese ich ein Buch
„Entsprechend André Bretons Definition, Phantasie sei das, was dazu neige, real zu werden, ist in diesem Roman manches erfunden und trotzdem wahr“, heißt es im Vorsatz. Thema ist die Entstehung des Dokumentarfilms „Las Hurdes – Land ohne Brot“, eines Frühwerks von Luis Bunuel aus dem Jahr 1933. Dalí kommt auch drin vor. Wir Leser:innen betreten also das Feld der Hochkultur, Dadaismus, Surrealismus: Wir müssen mit allem rechnen. Die erste Frage, die sich stellt, ist daher: Muss ich die Lebensläufe, Produktionsumstände und kunsttheoretischen Positionen von Bunuel, Dalí und Konsorten parat haben, um das Buch verstehen zu können? Muss ich wenigstens den Film kennen, um den es geht? Er ist mühelos im Internet zu finden, die Biographien auch. Ich entscheide mich trotzdem gegen alle Vorstudien; ich finde, ein Buch sollte aus sich selbst heraus zu verstehen sein … womit ich natürlich riskiere, einige Bezüge zu übersehen.
Fremdheit
„Aber er mag auch die Zeit, in der nichts passiert.“ So schreibt Guhr über Bunuel: im Präsens, Er, was eine spürbare Fremdheit ergibt. Er schreibt nicht aus ihm heraus – „er mochte auch die Zeit …“ – sondern über ihn, „er mag auch …“. So gibt Guhr auch Gedanken, Tagträumereien oder Visionen von Bunuel wieder, die man nicht kennen kann, wenn man nicht in ihm selbst steckt (außer, natürlich, da sind Zitate von ihm eingearbeitet). „Er findet, dass Menschen, die ihren Mund offen lassen, idiotisch aussehen.“ Solche Sätze sind gelegentlich ans Ende von Absätzen montiert, manchmal assoziativ, manchmal ohne erkennbaren Zusammenhang – und es gibt wohl auch nicht immer einen Zusammenhang, dies ist ein Erzählprinzip von Bunuels Filmen wie von Guhrs z. T. collagenhaften Roman.
Jetzt aber. Das Thema
Nach zwei Skandalfilmen will Bunuel also einen Dokumentarfilm drehen, über die Region Las Hurdes in Spanien. Planlos irrt das Filmcrew-Quartett durch Land und Dorf, filmt wahllos mal dies, mal das: Doch wie sollen all die Episoden ein Film werden? Das alles hat keinen Sinn, es passiert nichts, und nichts lässt sich filmisch einfangen, was wenigstens ein bisschen Wirkung erzielt. Sie drohen zu scheitern. Bunuel will schon abbrechen, doch eine Vision im Beinhaus, im Kellergewölbe des Klosters holt ihn ins Leben zurück. Jetzt will er einen Tod. Für die Dramatik. Des Films. Er erschießt einen Esel, dann eine Ziege. Schließlich stirbt ein Kind – unter vollem Einsatz wird der Trauerzug gefilmt – und das rettet den Film. Das letzte Kapitel ist ein Nachtrag: Der Text des Stummfilms wird am Küchentisch geschrieben, zur Aufführung kommt Bunuel mit Steinen in der Tasche, um sich gegen ein aggressives Publikum zu wehren: Doch es ist gar nicht aggressiv. Dagegen wird der Film in Spanien 1933 schnell verboten. Der Bürgerkrieg zeichnet sich schon am Horizont ab, in Form von immer heftigeren, gewalttätigeren Auseinandersetzungen in der Gesellschaft. Dies als Gegenwartsbezug? Man kann es so verstehen.
Das ist Literatur des Monats Juli bei 889FM Kultur.
Und jetzt habe ich richtig Lust, mir dieses Mach- oder Meisterwerk einmal anzusehen! Auf Youtube z. B. …
Sebastian Guhr: Der spanische Esel. Berlin: Berenberg, 2024. 88 S. ISBN 978-3-949203-81-7