Reinhard Stöckel – Bärensommer. Salzburg: Müry Salzmann, 2022.
Gute Literatur verliert nicht an Wert, wenn sie altert. Das gilt für Jahrhunderte, aber auch für Jahre. Monate. Auch, wenn die Neuerscheinungen inzwischen im Wochentakt nachdrängen, lohnt es sich noch zu lesen, was kurz vorher erschienen ist. „Bärensommer“ sei als Lektüre für die kommende heiße Jahreszeit wärmstens empfohlen.
Die Ausgangslage ist geradezu kafkaesk. Marc Jander (meist nur: Jander) muss, statt in den Urlaub zu fliegen, ins Brandenburgische Branzdorf fahren, um einen Streit um den Bärenwald und die darin liegende Quelle zu schlichten, ein Streit mit dem Nachbardorf Klein Kloitz, das die Quelle ebenfalls für sich beansprucht. Die Kloitzer wollen um sie herum einen Kurort errichten und mit ihm nach Sachsen wechseln. Das gilt es zu verhindern, im Auftrag des brandenburgischen Ministerpräsidenten.
Doch es ist viel zu heiß
Die Realität verschwimmt vor den Augen. Ein Bär taucht auf, aus dem Bärenwald? Eine weiße Frau: woher die? Das sind Sagengestalten. Die Pensionsgäste scheinen einer finstereren Vergangenheit entstiegen: Ein Dichter, Herr Silberstein, und ein Mann mit Hitlerbärtchen, der nicht mit Herrn Silberstein unter einem Dach leben will, es aber trotzdem tut. Der alte Graf von Kloitz, dem der gesamte Grund und Boden hier einmal gehört hat. Die Bürgermeister der beiden Käffer. Nyks, der eigentlich Erik heißt, und Franklin, eigentlich Frank. Eine Urkunde taucht auf, die den Wald Kloitz zuspricht – dann eine weitere, die sie Branzdorf zuspricht. Sie sind nahezu wortgleich! Sind sie echt? Was ist hier überhaupt Echtheit, Wahrheit? Was ist Realität: Der Bär etwa, die weiße Frau? Die Pensionsgäste? Und dann jenes seltsame behaarte Muttermal an Janders Arm, das plötzlich unkontrollierbar zu wachsen beginnt … Krebs, oder Verwandlung in einen Bären? Und dann hängt da eine Waffe an der Wand, in der Gaststube von Frau Bitalka aus Schlesien. Mit ihr sollen deren Eltern umgebracht worden sein. Vom Grafen Kloitz, damals, im Krieg. Marga Bitalka, heißt es, sei eine talentierte Schauspielerin: Spielt sie etwa den Herrn mit dem Hitlerbärtchen? Und Herrn Silberstein? Und dann plagen Jander auch noch Alpträume, er sei eingesperrt in jener Hütte im Bärwald, vor der ein Bär lauert: oder sind es Visionen?
Nun wird eine der Urkunden – deren Glaubwürdigkeit sowieso zweifelhaft ist – gestohlen. An Janders Auto wird ein Reifen zerstochen, sodass er nicht mehr wegkann. Er sitzt in der Falle. Was sich eben zum Kriminalfall entwickelte und damit zum Krimi, wird schleichend unheimlich und bedrohlich. Und ziemlich rapide schräger und schräger.
Wer Juli Zehs Unterleuten gelesen hat, der wird den Bärensommer genießen!
Aber weiter wird nicht gespoilert
Das alles wird von Bernhard Stöckel überaus charmant erzählt und mit einem trocken-stillen Humor durchsetzt, dass man immer wieder innehalten muss, vor Lachen, und sofort weiterlesen muss, vor Spannung. Unmöglich, solche Bücher! Eine reine Freude. Urlaubslektüre? Aber ja: Aber auch weit über deren Standard; das hier ist gute Literatur, die Spaß macht. Und das wird sie auch noch im kommenden Sommer noch machen. Und im Sommer drauf. Und … so weiter.
Dieses Buch hat alle 19 Köpfe unserer Jury bei Literatur des Monats im Januar 2023 begeistert. Kein Wunder – wenn man es kennt. Wenn man es nicht kennt: Freue man sich drauf!
Reinhard Stöckel – Bärensommer. Salzburg: Müry Salzmann, 2022. 192 S. ISBN 978-3-99014-225-7