Nina Jäckle – Verschlungen. Roman. Stuttgart: Kröner Edition Klöpfer, 2023.
Zwillinge also, Zwillinge sind hier die Protagonistin. Einzahl für zwei. Ewa und ihre Zwillingsschwester. Zwei Mädchen wachsen zusammen auf, geradezu untrennbar sind sie. Eine kam zuerst auf die Welt, jedoch übernahm ihre Schwester Ewa schnell die Führung, in einer ungesund dominierenden Art. Die Geschichte jedoch erzählt die andere, namenlose Schwester, im Rückblick, und zwar alleine. Aus dieser Perspektive erfahren wir, nein, erleben wir mit, wie es ist, in die Abhängigkeit der gleichaltrigen “großen Schwester” zu rutschen, wie man darin lebt – einerseits gesichert und ohne Verantwortung, andererseits fremdbestimmt und immer mithaftend – und wie man sich aus dieser suchtartigen Abhängigkeit wieder befreit.
Fetus in fetu – eineiige Zwillinge, spiegelbildlich geradezu: “normalerweise” “verschlingt” der eine Fötus noch im Mutterleib den anderen – bei Ewa und ihrer Schwester ist es jedoch nicht geschehen. Oder doch? Im realen Leben, auf der Welt, nach der Geburt beginnt die Auseinandersetzung der Schwestern miteinander. Hier überwältigt die eine die andere. Wobei durchaus auch Gewalt im Spiel ist. Wer wird gewinnen? Von der Erzählsituation ausgehend ist es klar: die Erzählerin. Die sich allein in ein Haus im Wald zurückgezogen hat. Aber wo ist Ewa geblieben? Was ist mit ihr geschehen? Es baut sich eine untergründige Spannung auf, der man sich nicht so leicht entziehen kann.
Beunruhigung zwischen den Zeilen
Genauso dieses symbiotische Zusammenleben der Schwestern (monozygotisch – immer wieder). Auch die Außenwelt beobachtet sie mehr und mehr mit Beunruhigung. Schließlich schickt die Mutter die übergriffige Schwester, Ewa, in die Psychiatrie. Beide Schwestern reagieren gleichermaßen verstört auf diese Abnabelung. Das geht nicht gut, und als Ewa zurückkehrt, ist es unausgesprochen klar, dass beide diese Trennung mit Stillschweigen verarbeiten. Nach diesem Erlebnis jedoch überwiegt die Beunruhigung angesichts dieser ungesunden Bindung, und die Bilder der beiden spiegelbildlichen Schwestern taugen nicht mehr für die Werbezwecke des örtlichen Fotostudios.
Mehr wird nicht verraten.
Das ganze wird im typischen Nina-Jäckle-Ton erzählt: also meisterhaft. Die Sprache eigentlich ganz schlicht, einfach und leicht verständlich, ja, leicht lesbar – alles erschließt sich sofort … der Zauber setzt dann im Kopf der Leser:innen ein. Direkte Ansprache dann kursiv – so wird der Text gegliedert. Die Erzählmotive tauchen wieder auf, variiert und um Seitenaspekte erweitert, bis schließlich die einzelnen Wörter enorm mit Bedeutung aufgeladen sind. Ein dichtes Wortgeflecht, „verschlungen“ eben, in das man eintaucht und erst merkt, dass man gefangen ist, wenn es zu spät ist.
Das Buch
Der Kröner Verlag (Edition Klöpfer) hat das in einen hübschen schwarzgrünen Umschlag gepackt, auf dem sich Schlangenleiber umwinden: verschlungen, jedoch ohne Kopf oder Schwanz: unendlich. Stabiler Leinenrücken, Lesebändchen, tadelloser Schriftsatz: Alle Wünsche aller Lesefreund:innen werden hier erfüllt. Kein Wunder also, dass der Band bei “Literatur des Monats” auf die Favoritenliste gekommen ist – dass er dann reussierte, ist der fantastischen Autorin Nina Jäckle zu verdanken. Danke für diese Lesefreude. Danke für diese Leseerfahrung: “Nina Jäckle – oder was man mit Sprache alles anfangen kann!” schreibt die Süddeutsche Zeitung zu dieser Autorin. Zu Recht.
Nina Jäckle – Verschlungen. Stuttgart, Kröner Edition Klöpfer, 2023. 144 S. ISBN 978-3-520-77101-8.