Michel Decar – Kapitulation. Roman. Berlin: März, 2023.
Den Künstlerroman, es gibt ihn noch! Der Mensch, der um sein Werk ringt – hier steht er, in einer neuen Variante.
Die Lyrik ist sein Metier – edelste, aber auch aussichtsloseste Literaturgattung. Endlich, endlich erhält das lebenslange literarische Streben des Dichters seine verdiente Anerkennung, und zwar in Geldwert: 7.500 Euro, von der Sparkasse Celle-Gifhorn-Wolfsburg gestiftet. Sein Vortrag dort stößt allerdings auf geringes Interesse – und so kommt es zur „Kapitulation“. Der eben erstmals gefeierte Dichter Laszlo Carassin nimmt das Geld und flieht, mit dem festen Willen, nie wieder zu schreiben und nie wieder nach Berlin zurückzukehren. Das nötige Kapital hat er ja – er kehrt heim zu Onkel Bernat in Ungarn – wo er sein Leben als Frührentner fortsetzen will.
Geld, Geld, Geld
Doch das „Vermögen“ schmilzt schnell zusammen, und sodass ihn auch hier, in Ungarn, die Notwendigkeit einholt, neues Geld zu besorgen. Da hat Onkel Bernat eine Idee …: Er solle doch einfach das 1-Million-Euro-Gedicht schreiben! Hier hast du Papier, hier Stift: Jetzt mach mal, Autor! Das kannst du doch! Ja, Onkel Bernats hatte schon viele Schnapsideen, wie man zu Geld, zu viel Geld kommt …
Künstlerisches Schaffen in der Gegenwart
Vieles kommt hier jede:m Schreibenden sehr vertraut vor – auch der Gedanke, aufzugeben. Zu kapitulieren. In diesem Anti-Künstlerroman spielt Decar das auf vergnügliche Weise durch: Was passiert mit dem Autor, wenn er nicht mehr schreibt? Wer ist er dann – noch? Carassin verkommt schließlich sogar zu einer Art Gigolo einer halbseidenen Schönheit aus Odessa: Eigentlich eine ganz zwanglose Beziehung, die ihm die nötige Zeit und die Freiheit vom ökonomischen Druck verschafft, sodass er prinzipiell ganz entspannt „schaffen“ könnte. Er fühlt sich glücklich – hält das jedoch nicht aus. Er verkommt nur.
Michel Decar beschreibt mit viel Humor, mit viel Gespür für die Absurditäten der Lebenslagen von Künstler:innen, wie es einem als Autor heute, in der heutigen Gesellschaft ergeht. Man liest es hellwach – doch das Lachen bleibt einem im Halse stecken, denn man ahnt (oder weiß), dass dies nicht etwa ins Groteske übertrieben ist, sondern ein gutes Stück weit einfach nur Realität. Die Realität eines Künstlerinnenlebens, in einer Welt, die sich für Kunst ganz einfach nicht mehr interessiert (bestenfalls für den Geldwert), woran Schaffende – ganz gleich, wie ausgeprägt das Talent ist – ganz einfach ganz allmählich zugrunde gehen.
Wozu das alles?
Das Stehaufmännchen muss wieder aufstehen: einzige Chance. Und wer kein Stehaufmännchen ist, der wird dazu gemacht.
Einzige Chance, ja, aber wofür? Für wen, für was? Wozu?
Unterhaltsam, aber schonungslos zeigt Decar auf, was es heute heißt, künstlerisch tätig zu sein. Das wird kein Schelmenroman, denn Laszlo betrügt sich nicht fröhlich durch die Welt. Das ist auch kein Künstlerroman – denn die Muse küsst den Autor nicht auf dem Sterbebett, er kann nicht dann schnell noch das unsterbliche Werk schaffen, das ihm ewigen Ruhm verleiht, während er, völlig verarmt, aber mit Leib und Seele Idealist, dahinsiecht: Das ist es doch, oder? Ist es das, was die Leser:innen lesen wollen? Hier bekommen sie es nicht. „Kapitulation“ ist der Roman eines Verzweifelten, der von Scheitern zu Scheitern stolpert, nur, um sie zuletzt doch durchleben zu müssen, seine „Kapitulation“.
Dafür gibt´s einen Siegerplatz bei Literatur des Monats für den Juni 2024, denn das Buch ist – nebenbei gesagt, aber nicht nur nebenbei gewürdigt – außerordentlich schön gestaltet. Hardcover, ein Bohemienfoto vorne drauf, und fest quer darüber eingeprägt und mit rotglitzernden Buchstaben ausgefüllt: „KAPITULATION“. Ja, feiern wir die Kapitulation der Bohème, und zwar rauschend. Besser ist das schwerlich zu visualisieren.
Michel Decar – Kapitulation. Roman. Berlin: März, 2023. 217 S. ISBN 978-3-7550-0024-2