Marlen Haushofer – Die Wand
Bücher, die man lesen sollte … gibt es so viele. Marlen Haushofers Literatur hat „man“ (wer eigentlich?) lange Zeit der „Frauenliteratur“ zugerechnet, was durchaus diffamierend ist. So ist das Werk der zu Lebzeiten bekannten und gewürdigten, aber Frühverstorbenen nach ihrem Tode 1970 schnell in Vergessenheit geraten. Doch dann wurde es – nicht zuletzt dank der Frauenbewegung – wiederentdeckt. Danke für diese Wiederentdeckung! Der Roman hat an Bedeutung über die Jahre nur gewonnen.
So ist das hier: Die namenlose Ich-Erzählerin erwacht eines morgens in der Sommerfrische und findet sich von einer durchsichtigen, unsichtbaren Wand umgeben. Nun ist sie gezwungen, Landwirtschaft zu betreiben, und nicht nur das, sondern auch vorausschauend zu wirtschaften, um überleben zu können. Zurück zur Natur. (Walden, Thoreau?) Das Leben wird karg. Der Hund Luchs, der ihr anfangs eher fremd war, wird zum getreuen und geliebten Begleiter; zu ihm gesellen sich die Kuh Bella und dann die Katze und ihre Jungen. Es muss gesäht und geerntet werden und Saatgut muss beiseite gelegt werden für das nächste Jahr. Selbstdisziplin ist gefragt. Es muss gejagt werden, um Hund und Katzen zu ernähren. Die Scheu vor dem Töten und Zerlegen von Totem muss überwunden werden. Alles geschieht mit Umsicht und Planung, was von Haushofer mit ausgeprägter Nüchternheit berichtet wird. Denn die Erzählerin rechnet mit einem (stillen) „Weltuntergang“; sie sieht die Toten, die Leichen durch die Mauer in weiter Ferne in sich zusammensinken, sodass es (unausgesprochen) gar keine Option ist, die Mauer zu überwinden. Unterdessen erobert sich die Natur das Land zurück. Ein apokalyptisches Szenario? Ja und nein, denn die Protagonistin meistert die Herausforderungen der Natur hervorragend, was einem Kind der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielleicht noch leichter gefallen ist als uns Heutigen, denen das Landleben in weite Ferne gerückt ist. Die (vorausgesetzte) Apokalypse also ist überwindbar, sie ist zu überleben.
Im Szenario ist das mit Daniel Defoes Robinson Crusoe vergleichbar: Hier eine Hütte im österreichischen Bergland, dort eine Insel irgendwo im Meer. Wer Defoe gelesen hat (und nicht nur die Verfilmungen kennt, die das Werk Defoes arg verfälschen), der kennt die Unterschiede: Sie liegen in erster Linie in der Mentalität der Protagonist:innen. Bei Haushofer fügt SIE sich in die Natur ein und lebt mit und in ihr weiter, und das alles in allem recht harmonisch. Bei Crusoe fängt ER auf eine unangenehm-penetrante Weise an zu wirtschaften und zu kolonisieren; das Buch ist durchdrungen von merkantilem, berechnend-rechnerischem (calvinistischem?) Geist. Mehr zu sagen hat uns heute auf jeden Fall Haushofer.
Die Erstveröffentlichung war 1963 – also ist es (auch) unter dem Eindruck des Mauerbaus in Berlin geschrieben. Das ist jedoch bestenfalls eine Inspirationsquelle. Die Wand wird im Roman zwar tatsächlich auf eine kriegerische Katastrophe zurückgeführt, allerdings wird sie zum überzeitlichen Symbol. Zum Beispiel für die Mauer zwischen den Geschlechtern, zwischen ihr, die sich einfügt und sich zurechtfindet, und einem (ebenfalls namenlosen) Mann, der eindringt und erobert und ohne Verstand um sich schlägt. Der Unterschied zwischen einem entfremdeten Leben in einer patriarchalen Industriewelt und einem feministischen (?) Handeln gemäß den Gesetzen der Natur, in die man sich einfügt. Ein Selbstfindungstrip? Damit wäre Haushofer ihrer Zeit voraus gewesen, 1968 kam erst noch. Und die Protagonistin betont auch, dass die Natur das Ego eher vernichtet und die Ich-Bezogenheit: Es muss eben getan werden, was getan werden muss, egal, ob es jetzt eben gefällt oder nicht. Das ist gerade kein Egotrip, das ist eher „Zen und die Kunst …“ zu überleben – aber bei ihr ist mehr Zen, und Pirsig schrieb auch erst zehn Jahre später.
In dem Buch passiert eigentlich nichts. Es wird nur geschildert, wie SIE ihre Lage erkennt und sich darein fügt. SIE hat keinen Namen, sie nennt ihn bewusst nicht, und damit steht SIE nicht nur für alle Frauen, sondern für alle Menschen. Es gibt keine große Rebellion, nicht einmal den Versuch, die Wand zu zerstören und ihr zu entkommen (wobei die Flucht auch keine Perspektive hätte – die Wand wird zur Schutzhülle vor der zerstörten Welt). Andere Menschen (Männer? Frauen?) fehlen ihr nicht; sie denkt nur gelegentlich an ihre Kinder, die sich ihr aber lange entfremdet haben und die jetzt zweifellos tot sind. Das Seltsame, das hier so unvermittelt in die Realität einbricht, wird nicht weiter thematisiert, wird als Teil einer aus den Fugen geratenen, ins Absurde übersteigerten Normalität genommen – Haushofer ist eher eine Fortsetzerin Kafkas, eine Vorläuferin des Magischen Realismus, als eine Epigonin Crusoes.
Was Haushofer da macht, ist verblüffend: Obwohl alles von Anfang an klar ist und eigentlich kaum etwas passiert, kann sie Spannung aufbauen, sodass man von Anfang bis Ende bei der Stange bleibt. Die Wand. Sie wird nicht wirklich thematisiert, nicht groß beschrieben, und gerade deshalb ragt sie im Hintergrund umso mächtiger auf, ist man sich ihrer wie einer Drohung immer bewusst. Nach einer Weile scheint sie die Funktion einer Schutzhülle übernommen zu haben. Doch die Wand ist durchaus durchlässig: Kein Gewitter wird von ihr abgewehrt, und der Wildwechsel funktioniert. Das wird bedrohlich. Am Schluss kommt ein Mann.
Einerseits ist es einfach interessant, Haushofers Protagonistin beim Wirtschaften zuzusehen – das Landleben auf diese Weise kennenzulernen und mitzuerleben (inklusive Ablegen der Ich-Bezogenheit) – andererseits flicht sie ganz nebenbei immer wieder Bemerkungen ein, die auf die Zukunft vorausdeuten, woraufhin man darauf wartet, wann es denn endlich passiert. Und was passiert. So baut sie Spannung auf: Wobei sie den zu erwartenden, ihr schon bekannten Tod thematisiert: In welcher Reihenfolge sollte wer in der kleinen Gemeinschaft sterben, sodass sie den anderen am wenigsten schaden?
Ein solches Buch musste bei Erscheinen, in den Sechziger Jahren, völlig aus der Zeit fallen. Vergessen werden. Umso mehr kann es einem heute geben. Und ganz nebenbei demonstriert es, wie ganz anders Literatur sein kann, wie die Belletristik einen ganz eigenen Reiz entwickeln kann, auch und gerade, wenn sie den damaligen wie den heutigen Erzählschemata straks zuwiderläuft. Das ist interessant zu sehen – spannend zu lesen – und ungemein befreiend.
Mit dem Coverbild der gegenwärtigen Taschenbuchausgabe wird das Buch einer „Frauenliteratur“ zugeordnet, in die es aber nicht kategorisiert gehört. Das Buchhändlerische (die Reihengestaltung ihres Werkes bei Ullstein) tut hier dem Werk keinen Gefallen, denn das Bild zeigt eine Frau, wie SIE es bestimmt nicht ist. Es geht am Thema vorbei, und am Rang dieses Buches. Denn das, schließlich, ist Weltliteratur.
Marlen Haushofer: Die Wand. Berlin: Ullstein, 2004. 288 S. ISBN 9783548605715.