Luise Maier – Ehern. Göttingen: Wallstein Verlag, 2023.
Zunächst konfrontiert uns Luise Maier mit einer flippigen, aufgedrehten jungen Erwachsenen, Ida, die das Leben in vollen Zügen genießt, mit Weltreisen, Abenteuern und Abenteuern mit Männern. Sehr unterhaltsam, sehr reizvoll, und bei der Lektüre mag man sich darin verlieren, so wie Ida das tut: verlieren an das rauschhafte Leben, an die bloße Gegenwart. Daneben aber steht die tiefe Freundschaft (bis Liebe) zu Antoine, einem geduldigen Vater zweier kleiner Töchter. Zu ihm kehrt Ida immer wieder zurück – obwohl die Aussicht, im Falle einer Beziehung die Verantwortung für die beiden Kleinen übernehmen zu müssen, sie eher abschreckt. Sie wundert sich, wie hingebungsvoll Antoine die Vaterschaft lebt. Das stellt ihr Fragen, und Fragen kommen auch von anderen Seiten: Fragen nach ihrer Herkunft, ihrer Familie, ihrer Vergangenheit. Die Fragen, die erklären können, warum und wie sie geworden ist, wie sie ist. Warum lässt sie sich so ziel- und haltlos durchs Leben treiben? Woher kommt ihre Bindungsunfähigkeit? Das wird immer drängender.
Die Geschichte
Zwingenderweise wird im zweiten Teil des Romans die Familiengeschichte geschildert, von „Anfang“ an, also im Nationalsozialismus beginnend. Die Geschichte ist vertraut: Rassismus, kriegsgefangene Franzosen, Russlandfeldzug, Kälte und Krieg, deutsche Kriegsgefangene, Verschollene und Heimkehrer. Was die auktoriale Erzählerin berichtet, wird unterbrochen von äußerst geschickt geschriebenen Briefen. Eine beklemmende Geschichte: der Nationalsozialismus endet nicht 1945, die NS-Erziehung wirkt fort, nicht zuletzt über Johanna Harrers Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“. Nach ihren Prinzipien hat Großmutter Magdalena ihre Kinder erzogen, auch die Mutter von Ida, Elisabeth: Disziplin, Abhärtung, Vermeidung/Zerstörung aller emotionalen Bindungen. Leser:in erinnert sich an Idas Gedanken aus dem ersten Teil, dass sie Antoines Kind in jener Nacht einfach hätte schreien lassen … original Haarer, bei ihr, und eine Schroffheit und eigentlich Herzlosigkeit, die sich einprägt, so überraschend kommt sie. Antoine jedoch ist aufgesprungen, um sein Kind zu trösten. Sich daran erinnernd, wirkt man, lesend, selbst an dieser Geschichte mit: Stück für Stück setzt sie sich zusammen.
Der dritte Teil schildert die Nachforschung Idas nach der Familiengeschichte und deren Folgen für ihre Verwandten: Das ist zunächst eine Belastung, doch sorgt die Konfrontation auch für eine Katharsis. Und dabei wird auch erklärt, wie die Großmutter Magdalena zu so einer unerträglich bösartigen, gefühllosen Person werden konnte: Die Enttäuschung über eine unerfüllte Liebe (zu einem Franzosen) spielt eine wichtige Rolle; ein enttäuschtes Leben, in dem es schließlich nur noch um das Funktionieren ging.
Aber wie ist das geschrieben?
Soweit der Inhalt. Die Erzählung entwickelt einen unheimlichen Drive, die Reihung der Sätze zieht die Leser:innen mit enormer Dynamik durch das Buch. Die Erzählung selbst ist in Hunderte Einzelszenen aufgelöst: Bei der Lektüre setzt man sich die Geschichte selbst zusammen, und all diese schroff nebeneinander gestellten Episoden verdeutlichen, wie stockend dieser Aufklärungsprozess, diese „Vergangenheitsbewältigung“ erfolgt, wie er immer wieder unterbrochen wird – anderes aus der Gegenwart hineinspielt – und dass diese Geschichte (wie jede andere auch) lückenhaft ist. Form und Inhalt bilden eine Einheit – das ist hier wunderbar gelungen. Wie schmerzhaft so ein Erkenntnisprozess ist, erlebt man mit, und ebenso, wie heilsam. Das alles in einer ganz wunderbaren, äußerst prägnanten Sprache, die immer wieder Momente von außergewöhnlicher Poesie herbei zaubert. Ein kleines Meisterwerk, das seinen Leser:innen auch in fünfzig Jahren noch etwas geben können wird: Es wird überdauern.
Das Materielle
„Ehern“ – Der Name des Weilers wird zum Buchtitel, und natürlich charakterisiert das auch seine Bewohner:innen. Das Cover ganz in Brauntönen, darauf eine starke junge Frau, mit geradezu besitzergreifendem Blick, ein Kind auf dem Arm: Sie beachtet es gar nicht, es verschwindet am Bildrand, am Buchrücken, den folglich das Kinderauge beherrscht. Dem Wallstein-Verlag gelingt es wieder einmal, das Thema des Buches exakt und sehr ansprechend bildlich wiederzugeben. Das Buch selbst ist in der geradezu üblichen Wallstein-Qualität gestaltet: Gutes Papier, und ein sehr gelungener Satzspiegel, was bei diesem Roman, bei seinen vielen Episoden, Schriftarten und unterschiedlichen Textgliederungen durchaus eine Herausforderung ist. Literatur des Monats; ganz klar.
Luise Maier – Ehern. Göttingen: Wallstein Verlag, 2023. 166 S. ISBN 978-3-8353-5403-6