Henry Hoke – Ganz wie ein Mensch. Roman.
„Nature writing“ – die neue Gattung erweitert die Perspektive der Literatur vom Menschen weg Richtung Natur. Wenn Teile der Natur zu Protagonisten werden, ist man sofort beim Personalisieren von Tieren und Pflanzen, bei Biene Maja. An sich kein Problem – wenn es um Kinderliteratur geht, doch wenn es „Erwachsenenliteratur“ sein soll, dann wird das eine schiefe Bahn. Wie es gut geht, zeigt Luca Kiesers preisgekröntes „Weil da war etwas im Wasser“, das unter anderem auch bei Radio 889FM Kultur gewürdigt wurde. Aus dem angelsächsischen Sprachraum kommt nun Henry Hokes „Open Throat“ zu uns, übersetzt als „Ganz wie ein Mensch“.
Was der Puma erzählt
Henry Hokes Roman hat einen Puma als Protagonist und Ich-Erzähler, und er löst das Problem, dass eigentlich gar nicht möglich ist, was er schreibt, indem er sich Richtung phantastischer Realismus bewegt (eine Erzählprämisse ist nicht möglich: so what?), Richtung experimenteller Literatur (Kapitel, aufgelöst in Einzelsätze ohne jedes Satzzeichen – einzig Absätze trennen die Phrasen, trennen auch, was einzelne (Menschen) sagen). Das liest sich wunderbar, eingängig, bildhaft, ja, bildgewaltig, beeindruckend. Das funktioniert alles, nicht zuletzt, weil es durch einen stillen, unauffälligen Humor gekennzeichnet ist, der sich vor allem in Situationskomik zeigt, der Situationskomik, die die beobachteten Menschen entwickelt. Sie befinden sich in Reichweite dieser Raubkatze, in der Todeszone, von der sie jedoch nichts ahnen – und sie benehmen sich, wie man sich eben benimmt, wenn niemand hinschaut. Die Großkatze versteht ihre Sprache, und sie versteht auch, was sie tun, wenn sie auf ihrem Telefon herumtippen. Wir sehen durch die Augen einer Wildkatze den Menschen beim heimlichen Sex zu, und wir sehen auch, wie sie bös- und mutwillig ein Obdachlosen-Zeltlager anzünden. Der Berglöwe hilft, einen brennenden Menschen zu löschen – tatsächlich – und wird verjagt. Doch den entstehenden Waldbrand, der seine Lebensgrundlage vernichtet, den kann er nicht löschen. So kommt er in noch engeren Kontakt mit den Menschen, muss er die Hügel hinter „Ellej“ verlassen und haust er fortan unter Häusern.
Moral – in der Natur?
Es stellt sich ganz unmittelbar die Frage nach der Moral. Ist sein Hunger moralisch gut oder moralisch schlecht? Wenn er ein Tier reißt – was kann daran schlecht sein? Dagegen, was die Menschen tun … Seine Liebe findet ihre Erfüllung im Teilen von Futter. Dagegen, bei den Menschen? In dem Löwen zeigt sich die vom Menschen geprügelte, missachtete und auch verachtete Natur: Man sieht sie leiden, man sieht aber auch, wie sie sich auf lange Sicht gegen alle Trampelhaftigkeit der Menschen siegen wird. Ganz nebenbei. Teil der Handlung in diesem actionreichen Roman.
Eine Leseerfahrung erster Güte, erster Qualität und erster Relevanz. Vom Eisele-Verlag ganz wunderbar in einen Leinenband gepackt, von dem einen das rätselhafte Katzengesicht mit seiner ungerührten Mimik anblickt, einen fixiert, dass einem ganz anders wird.
Henry Hoke: Ganz wie ein Mensch. Roman. München: Eisele Verlag, 2024. 192 S. ISBN 978-3-96161-188-1.