Götz Aly – Europa gegen die Juden. 1880-1945.
Ein fürchterliches Buch; ich habe ein Jahr pausieren müssen, um es zuende lesen zu können. Eine endlose Kette von genau geschilderten Schikanen und Exzessen. – Ein bemerkenswertes Buch; das Wissen über die hier gesammelten Fakten verdient einen Platz in der Allgemeinbildung.
Antisemitismus allerorten
Wer sich schon mit dem Nationalsozialismus und der deutschen Judenverfolgung auseinandergesetzt hat, der wird hier wirklich überrascht. Und zwar dadurch, wo überall Antisemitismus herrschte – und wie er sich äußerte, wie brutal und wie rücksichtslos, und wie ähnlich zu Deutschland 1933 ff. Dagegen erscheint Deutschland bis 1933 doch sehr moderat. Und was dann in Deutschland folgte, reihte sich 1:1 in die gesamteuropäische Geschichte ein. Die Verdrängung aus den Berufen, der Entzug der Existenz, die Vertreibung aus den Bildungsinstitutionen (Gymnasien, Universitäten), der Entzug der Bürgerrechte, die Vertreibung, und im Osten auch immer wieder äußerst gewalttätige und staatliche gedeckte bzw. gedeckelte Pogrome. Diese Gewaltausbruchsserien sind allerdings nicht zu vergleichen mit der „Reichskristallnacht“ 1938 (vgl. hierzu jüngst Wolfgang Benz, Gewalt im November 1938).
Spießgesellen
Der Kipppunkt ist erreicht mit dem Kriegsbeginn. Und hier, bei Götz Aly, habe ich eine auch für mich nachvollziehbare Antwort auf die Frage gefunden, warum der Holocaust zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs gehört: Er gehört zur Bündnispolitik, er schmiedete die verbündeten wie die besetzten Länder an die Seite Deutschlands. Dies über die Räubergemeinschaft. Schäden, die durch den Krieg angerichtet worden sind (gerade auch von den Deutschen), sollten ersetzt werden, indem man die jüdische Minderheit ausraubte. Kaum jemand, der sich dem verweigerte. Und schon waren die Bürger Mittäter, hatten sie ein genuines Interesse daran, dass die Juden „verschwanden“ – wohin auch immer. Komplizenschaft also.
Eine These über die Grundlage des Judenhasses
Die Grundlage des Judenhasses findet Aly in der Feststellung, dass die Juden die „Fleißigen“ waren, die von den „Faulen“ beneidet wurden; ganz grob vereinfacht. Das ist eine bedenkenswerte These. So viele Wirtschaftsgebiete ihnen verschlossen waren, so sehr mussten sie sich auf das konzentrieren, was überhaupt noch möglich war, und das waren im ausgehenden Zeitalter der Hochindustrialisierung Angestelltenverhältnisse, Leitungs- und Organisationsfunktionen sowie wissenschaftliche Berufe. Was natürlich den Neid steigerte und damit den Hass. Somit führte der Fortschritt, die bürgerlichen Freiheiten, die Verbreitung der Bildung zu einer Intensivierung des Judenhasses – und dabei öffnete die Demokratisierung dem Hass eher die Schleusen als dass sie ihn eindämmte. Götz Aly schließt diesen Gedanken mit dem Hinweis ab, dass die nichtjüdischen Mehrheiten auf dem Bildungsweg aber aufholten. Insofern könnte man hoffen, dass damit dieses Motiv des Antisemitismus spätestens heute erledigt sein müsste. Ist das so? Nein, wenn man in die Tageszeitung blickt. Es gibt – natürlich – noch mehr Faktoren.
Antisemitismus als Symptom der Moderne
Der Antisemitismus wird also bedeutend gestärkt durch die Demokratisierung, die insbesondere mit dem Ende des Ersten Weltkriegs einsetzte, vor allem aber mit den damit einsetzenden Staatsbildungsprozessen. Anders kann man das nicht nennen: Mögen auch die „Friedensmacher“ (so Margaret MacMillan) die Staaten be- oder gegründet haben, mussten die damals ins Leben gerufenen Nationen trotzdem einen solchen Prozess durchlaufen, hatte doch jeder Staatskörper damals zahlreiche Minderheiten in seinen Grenzen, die entweder „nationalisiert“ oder vertrieben werden „mussten“. Diesen Prozess kann man bestens bei Gerwarth, Die Besiegten, nachlesen – Aly ist hier geradezu komplementär. Und zu diesen Minderheiten wurden überall auch die Juden gezählt, gegen die es schon eine jahrhundertealte Abneigung gab, die sich damit traf. Problem allerdings: Wenn alle die Juden loswerden wollen, wohin dann mit ihnen? Den Deutschen mit ihrer rigiden Judenpolitik gelang es nach 1933 schnell, den Druck zu erhöhen, sodass die „Judenfrage“ anfing, den europäischen Ländern auf den Nägeln zu „brennen“. Und dann boten die Deutschen an, die Juden zu „übernehmen“, zu „deportieren“ … welches Land hat sich dem schon verschlossen! Dänemark und Belgien – alle anderen haben früher oder später nach der Beute gegriffen, haben mitgearbeitet. Hier ist dann auch das Wort von der „Kollaboration“ völlig fehl am Platze; es handelt sich um eine aktive Mittäterschaft. Man kriegt einen trockenen Mund, wenn man das liest. Wenn man daran denkt, wie aussichtslos die Lage der Juden in der ersten Jahrhunderthälfte war: Wo sollten sie hin? Wohin fliehen? – Auftritt Theodor Herzl.
Randnotizen
Erste Notiz am Rande: Dieses Buch ist auch komplementär zu Götz Alys „Warum die Deutschen? Warum die Juden?“ – ebenfalls sehr informativ – der den Anteil der Deutschen an dieser Geschichte behandelt.
Zweite Notiz am Rande: Nach der neuesten polnischen Gesetzgebung darf dieses Buch in Polen wohl nicht mehr verbreitet und gelesen werden, weist es doch eine Mitschuld der Polen (und fast aller anderer europäischer Völker/Nationen) am Holocaust nach. Das ist der heutige Populismus. Wo der wohl noch hinführt?
Götz Aly – Europa gegen die Juden. 1880-1945. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2017. 432 S.