300 Jahre Kant – am 22. April 1724 wurde er geboren, am 12. Februar 1804 schied er aus dem Leben. Zentralfigur des Romans von Felix Heidenreich ist aber nicht nur der Philosoph, sondern auch dessen Freund und erster Biograf Wasianski, vor allem aber dessen Diener, Lampe, gewesener Soldat aus Würzburg. Drei Pole also, um die sich dieses Verwirrstück entwickelt.
Ein Roman um drei Pole
Der Diener Lampe, der sich von Kant verachtet sieht, unternimmt alltägliche Rache, indem er die Philosophie seines Herrn in Zweifel zieht, und zwar öffentlich. So beweist er sich selbst, nicht so dumm zu sein, wie Kant ihm unterstellt. Außerdem unternimmt er alle Anstrengungen, Kant an seinem Verstand irre werden zu lassen.
Kant selbst sieht man in seinem Schwanken: Soll er heiraten? Sich auch leibliche Freuden gönnen (in seinen jungen Jahren ist Kant in Königsberg als Geck bekannt)? Theodor Gottlieb von Hippel rät dazu, und nicht nur er macht Versuche, ihn in Versuchung zu führen, ihm also Frauen zuzuführen.
Dagegen steht Wasianski, sein Schüler und Bewunderer, dem nichts mehr am Herzen liegt, als dafür zu sorgen, dass der vergötterte Lehrer weitere Werke schreibt, und zwar so epochal wie möglich. Aus der Erkenntnis des eigenen Unvermögens heraus wanzt er sich geradezu an Kant heran: Die eigene Selbstachtung steht und fällt mit dem Ruhm Kants, als dessen Adlatus er sich versteht. Also hat Kant gefälligst zu philosophieren, und alles, was stört, muss beiseite geräumt werden.
Kant verspürt derweil – irritierend – ein seltsames Gefühl in Anwesenheit der Generalstochter Charlotte von Knobloch. Es macht ihn ganz kirre und motiviert ihn, seltsame Briefe zu schreiben, deren Inhalt wenig mit ihrem eigentlichen Inhalt zu tun hat.
Den ahnt der Geistliche Wasianski, ständiger Gast im Hause Kant und Begleiter seines Lebens. Und so muss die Generalstochter die Treppe hinunterstürzen. Tot – und doch nicht tot. Sie lebt weiter, meidet aber künftig das Haus des Philosophen (heiratet jemand anderen und führt (wohl) ein glückliches Leben).
Perspektiven und Zeitebenen
Dieses Geschehen ist geschickt in eine Vielzahl von Kapiteln gepackt, die einander abwechseln. Zeitsprünge inklusive: Es beginnt mit Kants Begräbnis und endet mit Kants Tod, von ihm selbst beobachtet. Jetzt, denkt Kant im Sterben, muss man einen richtig klugen Satz sagen, ein überlieferungswürdiges „letztes Wort“ ist zu sprechen … jedoch fällt ihm nichts ein. Ist aber egal; er ist eh allein, überliefert kann hier nichts werden. Kurz vorher (Zeitsprünge!) stand Wasianski, am Start der Biografie seines Heroen, vor demselben Problem: Was kann sein Letztes Wort gewesen sein? Ist egal; überliefert ist nichts, also kann man gut etwas erfinden. Oder aus zeitgenössischen Romanen (über Schlösser und Gespenster) übernehmen. Von dieser Art ist der Humor des Buches: still und charmant.
Es ist ein Verwirrspiel. Geschildert wird einmal aus der Perspektive Kants, dann Wasianskis, dann wieder Lampes. Bei jedem neuen Kapitel ist man als Leser:in erst einmal aufgefordert herauszufinden, wer hier jeweils „spricht“. Das klärt sich nicht immer sofort: Auf diese Weise animiert der Roman zum Mitdenken. Zentrale Menschenpflicht bei Kant: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit.“ Dieses Zitat muss im Roman nicht mehr bemüht werden.
Wobei er allerdings „vergisst“, dass das „Selbstverschulden“ durchaus fremdverschuldet sein kann: Gesellschaftliche, wirtschaftliche, soziale und andere Zwänge tauchen in seinen hehren, abgehobenen Theorien nicht auf. Wer immer nach dem Abstrakten schielt, nach der Theorie, den „reinen“ Begriffen … der bemerkt das Fehlen dieser Zwänge nicht einmal. Lampe dagegen schon, ihm wird das sehr spürbar, und er fasst es furios zusammen: „Damit der Herr keine dreckigen Stiefel bekam, stellte er sich auf die Schultern seines Knechtes. Von oben kommentierte er meine Fehler und Nachlässigkeiten und belehrte mich über die verständige Verrichtung von Arbeiten, die er selbst nicht zu leisten hatte, ja die zu leisten er selbst nicht in der Lage gewesen wäre.“ Hier ist ganz Gegenwart, was ein historischer Roman ist, und ganz Gegenwart ist auch, wenn in diesem hier über erste historische Romane der einsetzenden gefühlsseligen Romantik gelästert wird.
Aufforderung zum Mitdenken
Dieser hier ist da doch etwas ganz anderes. Ein kluges Verwirrspiel, das auffordert, mitzudenken. Weiterzudenken. Gegen den Strich zu denken. Die Kapitel sind kurz: Das regt zusätzlich dazu an. Das Buch selbst ist kurz: 149 Seiten reichen. Entsprechend ist dies auch kein ausuferndes Zeit- oder Sittengemälde, in das man eintauchen und sich wohlfühlen (oder angenehm gegruselt fühlen) kann. Natürlich wird hier auch nicht in altertümlicher Sprache und aufgesetztem Pathos bedeutungsschwanger geschwelgt (das fehlende „letzte Wort“ …). Dies ist es, was historische Romane für die Gegenwart leisten können. Dies macht das Buch so wertvoll, so interessant, so anregend.
Deshalb also: Literatur des Monats bei Radio 889FM Kultur – Monatssieger für den November 2023. Kurz vor Beginn des Jubiläumsjahres 2024 also: 300-jähriger Kant-Geburtstag dieses Jahr und 180. Todestag. Da steht uns Leser:innen in den nächsten Monaten sich noch einiges ins Haus. Der Roman wird damit zur charmanten Einleitung in ein Kantjahr in spe.