Dagmar Schifferli – Meinetwegen
„Reden tue ich ja gern.
Aber versprechen Sie sich nicht zu viel davon. …“
Mit diesen beiden lapidaren Sätzen beginnt der Roman „Meinetwegen“ von Dagmar Schifferli. Mit diesem Zeilensprung. Diese Sätze zeigen schon die ganze Sprachmacht dieser Autorin. Erwartungen werden mit der ersten Zeile geweckt. Ein Ich erzählt – wir lernen es nach und nach kennen, mit wachsender Sympathie und schleichend steigendem Schrecken – und es spricht jemanden („Sie“) direkt an. Hier wird also Sprechsprache in einen literarischen Text verwandelt, der „Stream of Consciousness“ ist nah. Es handelt sich aber nicht nur um ein schlichtes Gedankenprotokoll, bzw. das Protokoll einer (einseitigen) Unterhaltung, eines Monologs. Nein, das „Ich“ erzählt äußerst kunstvoll, planvoll und wirkungsvoll. Immer wieder zögernd, „wie im wirklichen Leben“, und all das Stocken wird mit Zeilensprüngen und anderen Kunstgriffen deutlich gemacht. Zwischenfragen werden in einzelne Sätze (Gedanken, Erzählstränge) einfach eingeschoben; unterdessen geht die Erzählung weiter. So entsteht ein ganz individuelles Erzählen. Und das ist so gut gelungen, dass man die Erzählerin während des Lesens quasi sprechen hört! In all der Vielschichtigkeit und Gleichzeitigkeit, die gesprochene Sprache mit sich bringt, nonverbale Sprache inklusive: das Zögern, das Stocken und das Verschweigen wird sichtbar. Im Schriftbild! Das ist es, was dieses Buch so ergreifend macht. Hier wird demonstriert, was Literatur, was Sprache alles kann! Das ist Literatur auf höchstem Niveau – durchgestaltete Sprache, die aber nie die Bodenhaftung verliert – das ist Kunst. Dass das Kunst ist, zeigt sich auch darin, dass sie kann, was Kunst eben kann: begeistern und bereichern.
Aber was hat dieses Mädchen getan, wie ist sie in die Lage gekommen, so sprechen zu müssen, wie sie es hier tut? Katharina, 17 Jahre, straffällig geworden: mehr verrät der sehr gelungene Klappentext nicht – das reicht, um neugierig zu machen – und mehr wird im Rahmen dieser Rezension also auch nicht verraten. Man möchte mehr wissen. Man spürt Katharinas Gedankensprüngen nach. Man merkt, wo sie etwas verschweigt, möchte nachhaken, aber das geht natürlich nicht. Das darf nicht einmal der zweite Protagonist dieses Kabinettstückes, der Psychotherapeut, den die Ich-Erzählerin aufs Schweigen verpflichtet hat. Man wünscht sich ein Verhör, findet sich aber als Zuhörer in einem Therapiegespräch wieder, eines der ganz eigenen Art. Mit Schweigegebot für den Therapeuten, der erst spät und nur via Schriftkarten daran teilnehmen darf.
Das schmale Bändchen – 112 Seiten – ist in gewohnter Nagel-&-Kimche-Qualität gestaltet. Auf dem Cover die Füße des Mädchens (eines Mädchens), das quasi auf ihrem Schatten steht, windzerzaust: eine sehr treffende Interpretation des Themas. Das in einem trockenen Dunkelblau, mit viel gräulich-bläulichem Weiß, und der Titel ist kursiv in einem frischen, Frühlingsgrün in den blauen Schatten gesetzt: Auch die Gestaltung des Buches überzeugt. Und die Schriftsetzer:innen hatten hier durchaus eine Herausforderung zu bewältigen. Was sie aber auch getan haben, mit Bravour. Das alles erklärt, warum Dagmar Schifferlis „Meinetwegen“ von der Jury von 889FM Kultur zur „Literatur des Monats“ August 2022 gekürt worden ist!
Dagmar Schifferli – Meinetwegen. Zürich: Nagel & Kimche, 2022. 112 S. ISBN 978-3-7556-0010-7.