Catherine Merridale – Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution.
Ein Buch über die Fahrt von Lenin und seinen Genossen in einem plombierten Zug 1917 durch Deutschland über Schweden und Finnland nach Russland, wo sich Lenin dann in der Revolution engagierte. Ein auffallendes Einzelereignis wird herausgegriffen, um an ihm historische Zusammenhänge zu exemplifizieren und zu erläutern. Das ist die historiographische Mode der Gegenwart: So entstehen Werke, die buchmarktgängig sind, wenn sie zu den entsprechenden Jubiläen erscheinen. Gut verkäuflich, denn sie liefern den interessierten Leserinnen und Lesern die gewünschten Hintergrundinformationen in geballter Form, die die Dokudramas im Fernsehen nicht liefern können (oder wollen), und so muss sich niemand durch eine „Geschichte Russlands im 20. Jahrhunderts“ quälen, um die jeweils interessierenden Häppchen zu erhalten. – Natürlich ist Merridales Buch 2017 erschienen. – Diese Mode wird zweifellos bald ihren Höhepunkt erreichen, ist sie doch in Deutschland schon angekommen, und ebenso bald wieder verebben, wird doch das Manko dieser Art der Geschichtsschreibung schnell deutlich.
Im Zug
Merridales „Lenin on the train“ ist ein Paradebeispiel dieser Art der Geschichtsschreibung. Begonnen hatte Merridale ihr publizistisches Werk mit Stalins Aufstieg begonnen, fortgeführt mit Leiden und Sterben in Russland, ergänzt durch eine Studie über „Ivan´s war“, also den zweiten Weltkrieg aus russischer Perspektive, dann fokussierte sie die russische Geschichte in der des Kremls, und jetzt also kommt sie zurück zu Lenin im Zug – sie ist also auf diesen Zug aufgesprungen. Und dieser Zug erfüllt und übertrifft alle Erwartungen. Es wird eben nicht lang und breit die Fahrt beschrieben (dies durchaus, aber es nimmt einen der Bedeutung des Geschehens angemessen geringen Raum ein), sondern die gesamten Umstände: Von der Vorverhandlung mit den Deutschen über die Exterritorialität des Zuges, die Streckenwahl, den Empfang in Schweden/Stockholm bis zu den Gefahren des Grenzübertritts und schließlich die Ankunft im Finnischen Bahnhof in Petrograd.
Der Hintergrund
Um aber die Bedeutung dieses Ereignisses zu verstehen, braucht es Hintergrundinformationen: Wer war Lenin, wer war er im Zusammenhang der russischen Revolutionärsemigration, worin bestand diese, wer war von den Sozialisten in Russland vor Ort, wie positionierten sie sich dort, wie verhielt sich die Politik dort, wie verlief die Revolution, was tat Lenin unterdessen, welche Emigranten wurden neben und außer ihm nach Russland geschafft und von wem (Plechanow und Co.), mit welchem Erfolg (keinem), was geschah bei Lenins Ankunft (er macht sich überall unmöglich – und siegt, da er die Zeichen der Zeit klarer erkannt hat als alle anderen und sie in packende Parolen fassen konnte). Die Geschichte endet hier, im Sommer 1917, mit seiner Flucht nach Finnland und also weit vor dem Oktoberputsch der Bolschewiki.
Es mag ein Buch sein, dass dem Fachhistoriker wenig Neues bringt (so die Kritik), aber der historisch interessierte Laie wird es trotzdem mit großem Gewinn lesen. Merridale gelingt es, alle ihre Themen so gut zu präsentieren und aufzuarbeiten, dass man atemlos durch das Buch jagt – bei klarem Kopf, ohne vernebelt zu werden. Fraglos ist Merridales “Lenins Zug” ein Höhepunkt der literarischen Geschichtsschreibung. Außer Lesevergnügen erhält man hier einen sehr guten Überblick über die russische Revolution in Petrograd bis zum Sommer 1917 (und also ohne die bolschewistische Oktoberrevolution).
Die Finanzierung
Ich habe nur einen einzigen Kritikpunkt. Der Vorwurf, dass Lenin durch die Deutschen finanziert wurde, wird erhoben (was zu Lenins Finnlandflucht führt), aber nicht wirklich aufgearbeitet. Die gründliche Untersuchung der britisch-amerikanischen Quellen und die Historiographiegeschichte ist hier sehr gut und sehr aufschlussreich aufgearbeitet – aber mir fehlt der Blick in die deutschen Quellen. Wenn Geld geflossen ist und wieviel, dann müsste es eigentlich in Deutschland entsprechende Unterlagen darüber geben (oder es müsste zumindest die Erkenntnis dargelegt werden, dass es sie nicht gibt/gäbe), zumindest Zahlungsbelege etc. Hier hilft dann eine Diskussion russischer Quellen, die sich als Fälschung herausstellen, wenig, und auch der Hinweis, dass die Bolschewiki nach ihrem Sieg gezielt Quellen vernichtet haben, führt nicht weiter. Das ist aber auch schon alles an Kritik – vielleicht/vermutlich lässt sich diese Frage in anderen Werken leicht klären. Darüber hinaus ist Merridales Zug pures Lesevergnügen.
Original: Catherine Merridale – Lenin on the Train. Allen Lane / Penguin Books, 2017.