Andreas Bernard – Wir gingen raus und spielten Fußball. Stuttgart: Klett-Cotta, 2022. 174 Seiten.
Andreas Bernard ist bekannt geworden durch einige kulturwissenschaftliche Arbeiten – er lehrt Kulturwissenschaften an der Universität Lüneburg. Bekannt also über die Geschichte des Fahrstuhls (2006), Reproduktionstechnologien (2014) und den Hashtag (2018); ein publizistischer Erfolg wurden seine „Laufenden Ermittlungen“ (2020), eine Sammlung kurzer Alltagsbeobachtungen. An diese Reihe schließt sich nun der Band seiner Fußballerinnerungen an.
Der Hintergrund
Bernard hat erkennbar ein Faible für (entlegene) Details, aus denen er Schlussfolgerungen zieht oder an die er Beobachtungen knüpft. Diese Technik der Historiker und Kulturwissenschaftler (Stichwort „thick description“) hat in den letzten Jahrzehnten zu einigen durchaus verblüffenden Erkenntnissen über Altbekanntes geführt. Denn die Crux der Geschichtsschreibung ist immer der Informationsquellenmangel. Gerade über den Alltag der Mehrheit der Menschen in vergangenen Zeiten kann man sich schwer äußern, weil es wenig Informationsquellen gibt. Umso größer ist die Freude, wenn man einmal eine findet. Wenn also künftig jemand über männliche Jugendliche im München der späten 70er/80er Jahre schreiben will, wäre ihm dieses Buch ans Herz zu legen: Der Wert dieses Buches liegt in der Zukunft.
Damit würde der:die künftige Historiker:in allerdings in die nächste Falle tappen: Je weniger Quellen es gibt, umso wichtiger wird die einzelne, umso mehr prägt sie das Bild. Es ergäbe ein schiefes Bild, aus Bernards Buch zu schlussfolgern, dass das Leben aller Jugendlichen (bzw. der männlichen Hälfte) so vom Ballspiel durchdrungen gewesen wäre wie bei ihm. Nein, das war es keineswegs. Zum Beispiel ich: aufgewachsen zur selben Zeit, ebenfalls in einem Vorort derselben Großstadt, allerdings gänzlich fussballfern. Die Mehrzahl meiner Mitschüler hat zwar gern Fußball gespielt – das Spiel war tatsächlich der „kleinster gemeinsamer Nenner“ der meisten – aber deswegen hat sich trotzdem nur ein Bruchteil dafür so begeistert, dass er eine Vereinskarriere angestrebt hat wie Bernard. Es war (und ist) möglich, sich nicht für Fußball zu begeistern, aber es war (und ist) nicht möglich, nicht mit dem Fußball konfrontiert zu werden. Er begegnet(e) einem mindestens medial allerorten, und in der einen oder anderen Form muss man sich damit auseinandersetzen. Bernard schreibt nur über die Minderheit der aktiven, der aktivsten Fußballfans.
In den „Laufenden Ermittlungen“ hat Bernard Beobachtungen aus dem Alltagsleben anderer prägnant zusammengefasst. Geschildert in aller Subjektivität: „Der ´Grillwalker` hatte sich vom Marktplatz entfernt, um auch den Passanten in den Nebenstraßen seine Bratwürste anzubieten, und nun stapfte er mit seinem klobigen Rost vor der Brust durch die engen Gassen wie ein entlaufenes Zootier.“ Was „lernt“ uns das, sagt der Berliner? Einerseits, es gibt mobile Bratwurstbrenner. Für mich knüpft sich sofort die Frage daran, wie ein Mensch das aushalten kann, diese Last auf dem Kreuz. So durch die Straßen laufen. Bei zwangsläufig minimalem Verdienst. Und wie entwürdigend das ist, demonstriert sogar der Blick des Beobachters: „Wie ein entlaufenes Zootier“. – Das ist die Unmenschlichkeit eines Mittelstands bzw. einer Oberschicht, der zwar die verformenden Äußerlichkeiten der Armutsfolgen wahrnimmt, als pittoresk, aber nicht das dahintersteckende Leid der Buckelnden. Die Hohlheit wie auch die Fragilität dieser Welt/Weltsicht wird hier geradezu spürbar.
Erinnerungen an den Fußball – Fußballerinnerungen
Im „Fußball“ macht Bernard sich nun selbst zum beobachteten Objekt, Subjekt und Objekt fallen also in eins. Der Blick aber ist derselbe, auch er begrenzt sich ganz auf das Geschehen an sich, die spielenden Jungs. Damit scheint es, als hätte es tatsächlich nur das gegeben, als hätten alle Jungs nur Fußball im Kopf gehabt (unsere alten Sportlehrer wären sicher begeistert, das zu lesen). Außer jenen wenigen Jungen, die sich vom Sportplatz verabschieden und prompt auf die schiefe Bahn geraten, als „Rocker“. Fußball als Allheilmittel, und wer sich ihm verschließt, ist verloren.
An die sehr detaillierten Erinnerungen knüpfen sich einige Betrachtungen. „Gleichzeitig wird der Sport aber auch zum Ausgangspunkt, um über die kindliche Wahrnehmung einer Großstadt nachzudenken, über den Zusammenhang von Erinnerung und Literatur und über die Prozesse des autobiografischen Schreibens selbst“, verkündet der Verlag (Klett-Cotta) etwas großspurig. Da wird sich also darüber gewundert, dass der Name eines verknappten Ballspiels regional und zeitlich unterschiedlich ist: Solle man darüber nicht einmal eine Studie anstellen? Meine Antwort wäre: Nein. Wozu auch, was soll dabei rauskommen – außer, dass ein Kinderspiel unterschiedlich benannt wird? Dann wird erklärt, dass sich Bernard die Landkarte der BRD über die Wappen der Fußballvereine erschlossen hat, die Stadtwappen verlören dagegen an Bedeutung. Auch da würde ich widersprechen: Mir hat sich gleichzeitig die Landkarte der BRD eben über die Stadtwappen erschlossen, und ich sehe nicht, warum ich nicht meine Beobachtung meiner selbst geringer gewichten sollte als er es mit seiner tut. Dies nur als zwei Beispiele für solche Exkurse.
Natürlich hätte Bernard noch mehr und anderes schreiben können, beobachten können. Wie ist es z. B. mit den Dialekten der Schüler: Sprachen alle bayerisch? Wer nicht, und warum? Wo waren die Mädchen? Wie sieht die ökonomische Basis aus, wer hat sich welches Trikot leisten können, welche Reaktionen, welchen Gruppendruck gab es? Worüber kam es zu Konflikten etc.? – Das leuchtet ansatzweise beim Kauf eines Fußballs und spezieller Schuhe auf, aber ohne Schlussfolgerungen. Statt dessen lernt man einiges über die Bespannung von Fußballtoren. Vor allem aber hat mich eins irritiert: Ich habe (als fußballdesinteressierter Mensch) nach dem Buch gegriffen, um endlich einmal zu erfahren, was am Fußball so interessant sein soll, habe mich also weitestmöglich geöffnet. Ich habe es leider nicht erfahren. Das Buch muss für Fans geschrieben sein – danach greift nur, wer bereits mit dem Ballvirus infiziert ist. Für alle anderen liest es sich so fremdartig, wie wenn ein „Onkel Andreas“ einem begeistert von seiner (z. B.) Angelleidenschaft erzählt, die man so gar nicht teilt. Man hört höflich zu, schließlich plaudert er ja auch ganz unterhaltsam. Aber: Was hat er nochmal gesagt? Was steht in dem Buch? Womit habe ich eben meine Zeit … verbracht?
Alltagsbeobachtungen sind vergänglich, und sie sind eben auch nur bedingt aussagekräftig. Außerdem ist es unmöglich, den Geschmack aller zu treffen (ganz anders z. B. die Münchner Revolutionserinnerungen von Victor Klemperer), und an Memoiren kann sich gut reiben. Erinnerungen solcher Art findet man vielleicht deshalb meist im Bereich des Selfpublishings. Hier hat sich Klett-Cotta der Sache angenommen: Warum? Einerseits ist autobiografisches Schreiben gerade en vogue, andererseits waren schon Bernards „Laufende Ermittlungen“ ein Markterfolg – erschienen im Tropen-Verlag, einem Imprint von Klett-Cotta. Und schon bei diesem Buch war das Publikumsinteresse über die Veröffentlichung im ZEITmagazin vorab geklärt. Also, sicher eine kluge verlegerische Entscheidung. Eine sehr kluge, wie sich inzwischen gezeigt hat: Bernards Buch findet sich jetzt tatsächlich auf der Shortlist für den Bayerischen Buchpreis (Kategorie Sachbuch) wieder. Herzlichen Glückwunsch!