Alexander Bätz – Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit
Alexander Bätz – Nero. Wahnsinn und Wirklichkeit. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2023.
Eine neue Biographie über Nero! Dieser Name zieht auch nach zwei Jahrtausenden noch Neugierige an. Oder ist es eine Mode? Tatsache ist, dass in den letzten 25 Jahren etliche Biographien über ihn entstanden sind, gerade im deutschsprachigen Raum. Jörg Malitz 1999 bzw. 32016, Gerhard H. Waldherr und Edward Champlin 2005, Stephan Elbern 2010, Holger Sonnabend 2016, dazu die Aufsatzbände der beiden Ausstellungen in Trier 2016 und in London 2021 (Thorsten Opper), und 2023 Alexander Bätz. Man kann sich schon fragen, ob dieser eine Kerl wirklich so viel Aufmerksamkeit verdient – aber der Untertitel bei Alexander Bätz verrät schon, dass die Wissenschaft sich inzwischen ganz andere Fragen stellt, als sie es früher getan hat. Wahnsinn und Wirklichkeit. Die Geschichte Neros ist vom Tyrannentopos geprägt – aber wie war es wirklich? Beziehungsweise, was weiß man eigentlich sicher – was ist umstritten, und bleibt es womöglich auch?
Der Wert von Rekonstruktion und historischer Prosa
Das schöne, umfangreiche und reich bebilderte Buch von Alexander Bätz erfüllt, was er im Vorwort ankündigt: Es ist ein auch für Laien gut lesbares Buch. Das Originelle ist, dass er jedes Kapitel mit einer kurzen frei formulierten Szene einleitet, die eben nicht historisch belegt ist und auch gar nicht belegbar ist, einfach, weil die Quellen fehlen. Das führt (zum Beispiel beim Ablauf der Geburt Neros) vor Augen, wieviel fehlt – aber auch, wieviel durch Analogieschlüsse und Parallelquellen bzw. -informationen ergänzt werden kann. Etwas Fantasie und literarisches Talent vorausgesetzt. Beides besitzt Alexander Bätz. Und als Historiker nennt er im Anhang auch die Quellen, die er für seine Rekonstruktionen genutzt hat. Eine gute, eine erfrischende Art, mit dem Problem mangelnder Quellen umzugehen – auch, wenn sie sicher nicht Schule machen wird, ist doch die Grenze zwischen Rekonstruktion und Konstruktion fließend. Bätz bleibt allerdings immer auf der sicheren Seite.
Schon wieder Nero?
Natürlich bleibt die Frage, braucht es schon wieder eine Nero-Biografie? In gewisser Weise ja – die Wissenschaft schreitet fort, und Bätz arbeitet sehr zuverlässig die aktuelle Literatur in seine Darstellung ein. Da die Nero-Literatur Bibliotheken füllt, ist es wohl nur noch computergestützten Bibliothekskatalogen möglich, sie vollständig zu erfassen; der wissenschaftliche Bibliothekar Bätz weiß darüber bestens Bescheid. Ein Werk also, dass man mit guten Gewissen jeder Geschichtsstudentin / jedem Geschichtsstudenten an die Hand geben kann, und von dem gut der Einstieg in die Detaildiskussionen gelingt.
Brand Roms 64 n. Chr.
Der Schwerpunkt meines Studiums lag in anderen Bereichen der Geschichte. Nur für die (zentralen) Fragen rund um den Brand Roms 64 und die anschließende Christenverfolgung habe ich mir ein wenig Expertise erarbeitet. Nur für dieses Kapitel möchte ich mir also ansatzweise ein Urteil als Historiker erlauben: Es fällt, kurz gesagt, absolut positiv aus, auch wenn ich Bätz´ (und Meiers) Meinung nicht teile. Auch dieses Thema – ein Zentralthema der Althistorik wie der Geschichtswissenschaft insgesamt, ist das Geschehen doch eine der Grundlagen der westlichen Kultur – hat Bätz umfassend und weitsichtig aufgearbeitet, mit aller Vorsicht, zu der ein Historiker fähig ist und die die geschichtswissenschaftliche Arbeit wertvoll macht, wobei er Widersprüche und Informationslücken markiert und nicht verschweigt. Tatsächlich hat gerade dieses Thema in letzter Zeit wieder mehr Aufmerksamkeit gefunden: Walsh 2019, Barrett 2020, Meier 2021. Bätz schließt sich Meier an, mit der These, die neronische Christenverfolgung habe nichts mit dem Brand Roms zu tun.
Die Lage, die Quellenlage ist so: Nur Tacitus bringt beides in Zusammenhang; beim zeitgleich schreibenden Sueton (beide Anfang 2. Jh.) fehlt er, beim späteren Cassius Dio (3. Jh.) ebenfalls. Andere Schriftquellen fehlen (bislang). Die christlichen Schriftsteller schweigen, bis ins 4. Jahrhundert hinein. Dieses Schweigen irritiert die Historiker schon seit hundert Jahren. Mischa Meier und in seinem Gefolge Alexander Bätz legen sehr fundiert dar, dass man aus diesem Schweigen die Schlussfolgerung ziehen kann, dass es diesen Zusammenhang eben nicht gibt. Das ist schon möglich. Damit bleibt jedoch die Frage offen, warum (und wann) Nero die Christen verfolgt haben soll. Hierauf liefern beide keine Antwort. Jede Verfolgung und auch jeder Pogrom braucht aber einen Grund, und sei er noch so künstlich konstruiert und vorgeschoben.
Aber wann, und warum eigentlich?
Die Frage nach dem Zeitpunkt ließe sich mit Tacitus beantworten: Seine Annalen ordnen sie im Jahr 64 ein, und zwar nach dem Brand Roms. In den Fakten ist Tacitus gewöhnlich zuverlässig, auch wenn er ansonsten polemisch bis geradezu gehässig schreibt. Die zeitliche Einordnung ist nicht unlogisch, denn schon 65 fährt Nero für anderthalb Jahre nach Griechenland, und anschließend, mit und nach seiner Rückkehr, taumelt er in den Untergang. Damit steht die Christenverfolgung aber wieder im (zeitlichen) Zusammenhang mit dem Großbrand – auch in einem kausalen? Wie lässt sich das Schweigen der Quellen, insbesondere der christlichen Quellen (für die später diese erste Verfolgung so zentral wurde), noch erklären? Meiner Meinung nach ist eine Beteiligung von Christen an dieser Feuersbrunst durchaus möglich – mindestens denkbar –, weil logisch begründbar: Sie erwarteten dreißig Jahre nach Jesu Tod dessen Wiederauferstehung täglich und damit das Ende der Welt. Soll man da einen Brand löschen und damit womöglich gegen den Willen Gottes handeln? Wer riskiert sein Seelenheil? Sekten sind glaubensfest, weil sie gegen die ganze Welt stehen. Haben vielleicht die antiken christlichen Autoren etwas gewusst, was sie nicht niedergeschrieben haben, was ihnen unangenehm war? Dass die Christen die Stadt … vielleicht nicht angesteckt haben, dass sie aber mindestens beim Löschen nicht mitgeholfen haben und sich somit ganz offen ins Abseits gestellt haben, aus der römischen Stadtgesellschaft ausgeschlossen haben, dass sie zwar sicher Sündenböcke, aber eben keine Unschuldslämmer waren? Der Generalvorwurf „Feinde des Menschengeschlechts“, der zum Standard bei der Verfolgung wird, trifft es da aus römisch-nichtchristlicher Perspektive doch sehr genau. Es ist wahrscheinlicher, dass die “Christenverfolgung” im Gefolge des Brand Roms stattgefunden hat, als davon losgelöst – und die Antwort auf die Frage nach einem Grund für die Verfolgung dieser (damals) Sekte innerhalb des Judentums steht immer noch aus. Während sich das wahrscheinliche Verhalten von Mitgliedern einer Weltuntergangssekte bei einer Großkatastrophe wie dem Brand Roms sehr leicht als solches instrumentalisieren lässt.
Das sind Thesen, die man diskutieren kann, und die auch sicher noch länger diskutiert werden. Geschichtswissenschaft ist heutzutage immer Diskurs. Alexander Bätz´ Nero liefert einen guten Beitrag dazu, Nero von einigen der Mythen, mit denen ihn die Jahrhunderte umsponnen haben, zu befreien. Und für alles weitere hat er einen sicheren Boden gelegt.