Ismail Kadaré – Die Pyramide
Geschrieben in Tirana und Paris 1988 bis 1992, also in der Umbruchzeit von der kommunistischen Diktatur zur „Demokratie“. Ein „historischer Roman“ – wie man „historische“ Romane schrieb, die Parabeln sein sollten. Also: Die Vergangenheit wird so hingebogen, dass sie die Aussage trägt, die man über die Gegenwart tätigen will.
Historischer Roman?
*Stöhn!* Statt dass man sich ein Beispiel aus der Geschichte sucht, das wirklich passt … also, wer ein Wiederaufleben der Geschichte, der Alten Ägypter mit Cheops und Chefren zu lesen wünscht, der wird von diesem Buch enttäuscht werden.
Die Pyramide
Die Pyramide ist ein Bauprojekt, ein Zukunftsprojekt, das dazu dient, die Bürger zu unterdrücken, und das Tausende von Todesopfern fordert. Unfallopfer – Kollateralschäden – der Aufbau der kommunistischen Utopie: Ein Grabmal. Für den „großen Führer“. Und was, wenn die Pyramide dann fertig ist? Wenn man die Fertigstellung nicht mehr weiter herauszögern kann? Das Grabmal „fordert“ ihn, der große Führer stirbt kurz darauf. Und sein Nachfolger lässt die nächste Pyramide errichten. Dazwischen werden Geschichten von erfundenen Verschwörungen erzählt, die man zu Verfolgungsaktionen nutzt, und von einer Geheimpolizei, die brutal foltert, verstümmelt und ermordet bzw. verschwinden lässt. Das ist, grob gesagt, der Plot. Und das ist eben kein Plot: Daran leidet das Buch.
Leseerfahrung: Kadare
Ich bekenne: Ich bin ein Fan von Ismail Kadaré, und von seinen wohl 30 Büchern habe ich (bis jetzt) ganze drei gelesen. So ein schlechter Fan bin ich? Nein, so sehr wirken seine Bücher in mir nach. Insbesondere das erste, das ich vor wohl zwanzig Jahren gelesen habe, „Die Festung“. Geschildert wird darin die Eroberung einer Festung in Albanien in der Zeit der Eroberung des Landes durch die Osmanen. Belagerungssituation – Gefängnisatmosphäre – Berge und Mauern – Albanien. Großartig! Schlichtweg großartig. In seiner Finsterheit, in seiner Genauigkeit, in seiner mythischen Gewalt. Aufwühlend. Und: ein Roman, der ganz ohne das übliche Menschlichtümeln auskommt, will sagen, ohne die obligatorische Liebesgeschichte zwischen der schönen klugen Sie und dem aufgabenbesessenen, verzweifelt liebenden Er. Und trotzdem packend von der ersten bis zur letzten Seite.
Intellektualität als Fehler
Das gelang bei der Festung, weil man in ihr und in ihrer Zeit gefangen war. Das gelingt bei der Pyramide nicht – der Roman ist zu intellektuell. Sprich, der Parabelcharakter ist zu offensichtlich. Und wo sich sprachliche Schönheiten zeigen – die Steinzählung als Zeitmaß – da ist auch das gedacht, nicht gefühlt. Sprich, es wirkt konstruiert. Ja, damit lässt sich das Problem des Romans meiner unbefangenen Meinung nach schon zusammenfassen: Er ist gedacht, nicht gefühlt. Und damit wird zum Abriss, was sonst das bunte Leben hätte sein können.
Zeitgebundene Literatur
Warum das? 1988-1992 fällt mir als Erklärung ein, Paris-Tirana. Was in einer Diktatur ein Thema ist, ist es nicht mehr in einer Demokratie. War und ist also der historische Rückgriff (ich spreche jetzt von „Literatur“, nicht von jenen den Buchmarkt erdrückenden Versuchen, die Vergangenheit wiederzubeleben, um romantisch zu träumen; siehe oben „Er liebt Sie“) ein Mittel, in bedrängten Zeiten etwas klar auszusprechen, was sonst nicht oder nur unter Opfern möglich wäre (Wolfs „Kassandra“), so ist das in der „Demokratie“ nicht mehr notwendig. Eine Parabel ist hinfällig, wenn sie nicht mehr notwendig ist. Wenn man also deutlich aussprechen darf, was man aussagen will. Dann tut man das auch in der Parabel, dann wird sie … siehe oben. Stimmt das? Müsste man einen besseren Kadaré-Fan fragen. Bis dahin jedenfalls muss man das Buch nicht lesen; es ist stellenweise überintellektuell, streckenweise (weitestreckenweise) einfach langweilig. Ich denke, es ist zeitgebunden, und die Zeit ist darüber schon hinweggegangen; ein Rätsel, warum es 2014 noch einmal gedruckt wurde (auf deutsch), als es schon so lange veraltet war. – Ich bin gespannt auf die nächste Kadaré-Leseerfahrung.