Hirschfeld/Krumeich/Renz (Hg.) – 1918. Die Deutschen zwischen Weltkrieg und Revolution.
Die renommierten Forscher haben als Autorentrio bereits mehrere wichtige und Standardwerke zum ersten Weltkrieg herausgebracht. Dieser Band setzt die Reihe fort, indem er zentrale und symptomatische Quellenzeugnisse sammelt, chronologisch und thematisch in Hoffnung, Enttäuschung, Niederlage und Revolution geordnet. Ergänzt durch einen Erinnerungsabschnitt von Sebastian Haffner, der diese Zeit in einen subjektiven Zusammenhang bringt, in der kommentierenden Retrospektive. Der Leser erlebt so einen Wirbelsturm der Gefühle, die dieses Jahr mit sich brachte.
Der Hintergrund
Zwei Essays rahmen die Sammlung ein, von denen der erste die Quellen in einen Zusammenhang bringt, also, die Geschichte erzählt, und der zweite das damals Kommende skizziert, also in erster Linie die Auseinandersetzung mit dem Versailler Vertrag / der Kriegsschuldfrage, der Dolchstoßlegende und der Novemberrevolution. Vor den Abschnitten stehen hilfreiche Chronologien mit den Ereignissen des jeweiligen Monats.
Quellenauswahl
Eine Auswahl von Schlüsselzeugnissen ist zwar immer subjektiv, aber trotzdem lässt sich die Sammlung mit mehr Gewinn lesen als mancher Erinnerungsband einzelner Menschen, ist sie doch „intersubjektiv“, wird also die eine Subjektivität durch die andere aufgehoben. Dass sich hier manche Zeugnisse finden, die Leserinnen bereits aus anderen Zusammenhängen kennen mögen, wurde dem Band vorgeworfen – eigentlich Unsinn, tritt das Buch doch nicht ergänzend zu anderen in eine Reihe, sondern steht es doch für sich. Die zentralen Zeugnisse des Umbruchjahres gehören also auch hierher. Ebenso wie die Abschnitte aus Memoiren, ebenso wie die Feldpostbriefe von und an die Front. Besonders interessant erschienen mir hier die Schilderungen, wie gekämpft wurde: Aus dem zweiten Weltkrieg kennt man das kaum. Ebenso interessant das Leben in der Heimat, die Bedrückungen dort. Und nebenbei die Bemerkung, dass in diesen Jahren mehr Menschen verhungerten, als im Zweiten Weltkrieg in den Bomberangriffen starben.
Die Kriegsschuldfrage
Vor dem Hintergrund meiner Lektüre hat mich nun interessiert, wie die Position der Historiker zum Kriegsschuldparagraphen hier ist. MacMillan wird im Literaturverzeichnis nicht erwähnt, aber die Historiker/-innen stellen klar (im zweiten Essay), dass es hierbei keineswegs nur um die Begründung von Reparationsforderungen ging, sondern um eine Verurteilung Deutschlands und der damals leitenden Politiker (in erster Linie natürlich Kaiser Wilhelm II., dessen Auslieferung von den Niederlanden im Vertrag gefordert wird). Unwillkürlich fragte ich mich, was wohl geschehen wäre, wenn die Niederlande ihn tatsächlich ausgeliefert hätten. Ein Gerichtsverfahren? Vor welchem Gericht? Wie wäre das Urteil ausgefallen – wer hätte es wie vollstreckt? Hätte das einen Einfluss gehabt auf die Behandlung Deutschlands? (Wohl kaum, die Interessen der Siegermächte hätte das nicht tangiert.)
Die Spanische Grippe
Wie steht es mit der Spanischen Grippe? Ja, wird erwähnt – aber nach der Lektüre von Spinneys 1918 hätte man mehr und gravierendere Erwähnungen erwartet. Tötete sie im deutschen Heer und in Deutschland mehr Menschen als bei der Entente? Nun gut, das ist eben eine persönliche Erwartung eines einzelnen Lesers vor seinem speziellen Horizont, und das taugt per se nicht zum „Vorwurf“. – Der Antisemitismus wäre auch so ein Thema: angetippt. Nebenbei vorhanden, also. Aber so war das eben. Ein Thema unter mehreren.
Eisners Alleingang
Interessant dann aber der Rekurs auf Kurt Eisners Quellenveröffentlichung bezüglich der Kriegsschuldfrage (zweiter Essay). Dass der bayerische Ministerpräsident das Schuldeingeständnis als Basis eines Beweises der Besserung Deutschlands verstanden wissen wollte, kam weder bei den Alliierten noch bei den Deutschen an. Die Entente nahm es als Beweis für die Kriegsschuld, die Deutschen (insbesondere die Rechten) als Beweis für den „Landesverrat“ der Revolutionäre. Tja.
Die Kriegsschuldfrage für die Historiker
Was mich nun aber doch noch interessieren würde, wäre eine Antwort auf die Frage, wie das denn heute gesehen wird mit der Kriegsschuld (klar, die Frage kann nicht an ein Buch über das Jahr 1918 gestellt werden). Hier gehen die Meinungen ja immer noch auseinander. Christopher Clark, Die Schlafwandler, sieht die Schuld auf alle beteiligten Mächte nahezu gleichmäßig verteilt – in dem kleinen Beck-Wissen-Bändchen aus demselben Jahr (2013) von Annika Mombauer, Die Julikrise, findet man das Deutsche Reich führend daran beteiligt. Nun gut; die Auseinandersetzung wird vermutlich niemals enden – auf eine gemeinsame Formel wird man sich wohl kaum jemals einigen können, insbesondere nicht international– aber das liegt eben in der Natur der Sache. Streit und Widerspruch ist die Basis der Geschichtsschreibung, ist nichts anderes als die ständige Überprüfung und Erweiterung der Faktenlage.
Das Fazit
Fazit also: Das Buch ist eine sehr interessante, bereichernde Lektüre, die viele Einblicke in die Mentalitäten der Menschen in den unterschiedlichen Gesellschaftsschichten ermöglicht. Anders als die Vogelperspektive der Geschichtsschreibung. Das unmittelbare Erleben der Ereignisse „einfacher“ Soldaten oder Kellnerinnen zu Hause – ohne Überblick über die politischen Zusammenhänge – steht neben den sich oftmals zu wichtig nehmenden Erörterungen bzw. Ergüssen der Wissenschaftler/Obrigkeiten. Am berührendsten sind natürlich letztere. Dazwischen die deklamatorischen Deklamationen, wie aus einer anderen Macht – aus einer anderen Sphäre. So war das: So ist das.