Mariusz Hoffmann – Polnischer Abgang. Roman. Berlin: Berlin Verlag, 2023
Polen, Deutschland, 1990: Europa im Umbruch. In Polen muss man noch vorgeben, auf Urlaub zu fahren, um das Land verlassen zu dürfen. Es braucht eine Einladung zum Verwandtenbesuch im Westen, um für die DDR/BRD ein Visum zu bekommen. Das gelingt der Familie Sobota (Vater, Mutter, Sohn), und in der ersten Hälfte des Buches erfahren wir sehr detailliert, wie eine solche vorgebliche Urlaubsfahrt abläuft. Da ist nicht nur das Bangen an der Grenze – inklusive der ebenso charmanten wie gefährlichen Tollpatschigkeiten des jugendlichen Erzählers – sondern eben auch das schmerzhafte Loslösen aus der polnischen Umwelt, verbunden mit den erzwungenen Lügen, man würde wiederkommen, wobei die Ahnung nahe liegt, dass genau das nicht der Fall sein wird. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass Oma Agnieszka genau das vorgemacht hat: Verschwinden ohne Verabschiedung, „polnischer Abgang“ eben.
Familienangelegenheiten. Politik.
Eine Familiengeschichte: Der Vater ist einst von polnischen Ordnungskräften übelst zusammengeschlagen und im Wald liegengelassen worden, weil er sich in der Solidarnosc engagiert hatte. Aber woher wussten die Ordnungskräfte das eigentlich? Der Vater verdächtigt seine Mutter – Oma Agnieszka – die sein eigener Sohn trotzdem liebt. Diese Oma Agniezska, die die Familie vorgeblich besuchen will … jedoch kündigt sich schon vor dem Grenzübertritt an, dass das Ziel in Deutschland dann eben nicht das Aufnahmelager Friedland sein wird und damit Hannover, ihr Wohnort, sondern Hamm. So sehr der Sohn auch drängt.
In Deutschland
Im Lager treibt der junge Tunichtgut sein pubertäres Unwesen. Wir bangen mit ihm auf seinen halbkrummen Touren. Er lernt aber auch Monika Engel kennen, Flüchtling aus Oberschlesien wie er, aber aus wohlhabenderen, geordneteren Verhältnissen. Interessant zu sehen, wie die Flüchtlingsfamilien mit den neuen Umständen zurecht kommen: Für die Ingenieursfamilie Engel kündigt sich ein Statusverlust an, während sich die Sobotas auf niedrigerem Niveau sicher durchbeißen werden. Hinter allem steht immer noch die ausstehende Kontaktaufnahme mit der Oma, die Klärung der Schuldfrage … der gemütlich-schrullige „Roadmovie“, die Coming-of-Age-Geschichte steuert so auf ihre Klimax zu. Immer in einem sehr angenehmen Ton, gemütlich und mit angenehm dosierter Spannung zu lesen: Die Tragödien spielen sich hinter den Kulissen ab.
Das Buch
Der Berlin Verlag hat für dieses Buch dickes, holziges Papier gewählt, geradezu sozialistisch. Auch der Schriftsatz passt in diese Zeit. Eine besondere Leistung ist aber sicher die grafische Umsetzung des Themas im Cover: Orange- und Brauntöne beherrschen das Bild, Äcker rechts und links einer Straße, auf der ein kastenförmiges Auto nach „oben“ fährt, aus der Vogelperspektive gesehen. „Polnischer Abgang“ im Sinne von Abhauen, ohne sich zu verabschieden; ganz nebenbei zeigen sich in solchen Redewendungen Vorurteile und ein unterschwelliger Nationalismus, der durchaus seine Folgen zeitigt: Obwohl sich der junge Protagonist Jarek selbst nicht ernsthaft für einen deutschen Spätaussiedler halten kann, beschließt er, die deutsche Sprache so zu lernen, dass man ihm von seiner Herkunft nichts mehr anmerken wird. Mehr „deutsches Blut“, deutlich mehr Nationalismus trägt da doch seine Freundin Monika Engel in sich, der es prompt gelingt, ihren Freund mit revanchistischen Sprüchen aus einer Glatzen-Bedrohungssituation zu befreien.
Jarek sieht das alles deutlich lockerer. Polnisch, deutsch: Am Ende ist das einfach egal. Entspannt bleiben; das geht auch. Er klingelt bei seiner Großmutter. Bei Mariusz Hoffmanns „Polnischem Abgang“, Berlin Verlag: Literatur des Monats Oktober bei Radio 889FM Kultur!