Andreas Wirsching (Hg.) – Weimarer Verhältnisse?

Wirsching - Weimarer Verhältnisse

Andreas Wirsching, Berthold Kohler, Ulrich Wilhelm (Hg.) – Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie.

Nach der Bayern- und der Hessenwahl 2018 und vor dem hundertjährigen Revolutionsjubiläum im November die passende Lektüre. Andreas Wirsching (Hg.) – Weimarer Verhältnisse? Das ist: Ein Aufsatzbändchen, das eine Artikelserie sammelt – eine Koproduktion des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, des Bayerischen Rundfunks und der F. A. Z.: Also einerseits klassische Zweitverwertung, wie sie Historiker nicht ungern betreiben (nach dem Motto publish or perish), andererseits aber eine Sammlung der Artikel in willkommener Vollständigkeit. Und: Hier äußert sich die Prominenz deutscher Historiker/Politikwissenschaftler wie Horst Möller, Ute Daniel, Herfried Münkler und Andreas Wirsching zu einer politisch aktuellen Frage. Sind die Verhältnisse der Weimarer Republik mit denen der aktuellen Berliner Republik, die sich durch den Aufstieg der rechtspopulistischen AfD zu verändern beginnt, vergleichbar?

Wirsching - Weimarer Verhältnisse
Andreas Wirsching (Hg.): Weimarer Verhältnisse?

Die Untersuchungsthemen

Dabei werden unterschiedliche Problemfelder jeweils separat thematisiert. Andreas Wirsching schreibt über die politische Kultur, Werner Plumpe über die Wirtschaft, Horst Möller widmet sich dem Parteiensystem, Ute Daniel der politischen Sprache und den Medien, Jürgen W. Falter der Wählerschaft rechter Parteien, Herfried Münkler der Außenpolitik, Hélène Miard-Delacroix dem Deutschlandbild im Ausland und Andreas Wirsching zieht Bilanz.

Das Ergebnis des Überblicks

Das Ergebnis ist recht eindeutig. Vergleich ist immer erlaubt, und indem man vergleicht, relativiert man nicht und setzt auch nicht gleich. Die Frage richtet sich also auf den Erkenntnisgewinn, der durch den Vergleich zu erzielen ist. Bezüglich der Außenpolitik ist das Ergebnis: Nein, die Verhältnisse sind nicht vergleichbar. Natürlich, die Medien waren damals eng mit politischen Richtungen/Parteien verknüpft, und interessant ist, dass dies wohl zu einer ähnlich einseitigen Informiertheit führte, wie sie in der Gegenwart durch Big Data und Algorithmen bewirkt werden. Auch in den anderen Untersuchungen überwiegen die Unterschiede, und zwar so, dass aus dem Vergleich eigentlich recht wenig Gewinn gezogen werden kann. Die Vergangenheit hält keine Lehren und erst recht keine Patentrezepte für Lösungen bereit. Die große Ausnahme ist Jürgen Falters Untersuchung der Anhänger und Wählerschaften von NSDAP und AfD.

NSDAP und AfD

Ich will das Ergebnis hier kurz zusammenfassen. Es zeigen sich große Ähnlichkeiten: 40 % der Wählerschaft waren Arbeiter „in Arbeit“, während Arbeitslose eher die linken Parteien wählten. Unter den Wählern gab/gibt es einen „Mittelstandsbauch“. Frauen waren/sind deutlich unterrepräsentiert. Katholiken scheinen auch durch die AfD weniger verführbar zu sein als Protestanten, wobei die Religion in der Gegenwart nicht mehr die Rolle spielte wie früher. Den Aufstieg der populistischer rechter Bewegungen befeuern die Ängste: vor der Arbeitslosigkeit, vor Moslems – wogegen die reale Arbeitslosigkeit, die realen Moslems einen solchen Effekt nicht auslösen. Der Protest gegen die älteren, etablierten Parteien und das politische Establishment ist das Verbindende der Wählerschaften von AfD und NSDAP. Aber es gibt auch Unterschiede: die NSDAP konnte ihr Wählerreservoir vor allem aus Nichtwählern und Konservativen aufstocken (und damit gerade nicht aus der KPD), während die AfD vor allem die Wählerschaft der Linken aufgesaugt hat. Darüber hinaus sprechen beide Parteien aber das gesamte politische Spektrum an. Eine Protestpartei zieht also Protestwähler an – und das anscheinend unabhängig von Zeit und Raum. Damit zeichnet sich der Umriss einer eigenen Wählerformation populistischer Parteien ab, die von Politik und Gesellschaft berücksichtigt werden will.

Fazit

Ein Fazit also? Es reicht, den Artikel von Jürgen W. Falter zu lesen; Erkenntnisgewinn für die Gegenwart zieht man eigentlich nur aus seiner Wähleranalyse. Interessiert man sich für die Weimarer Republik selbst, sind andere Werke empfehlenswerter (Jones, Am Anfang war Gewalt; Hoeres, die Kultur der Weimarer Republik, usw.) – auch bezüglich möglicher Parallelen zur Gegenwart. Natürlich lohnt es sich auch, die anderen Artikel zu lesen. Doch sie alle leiden unter dem Problem des Formats: Podcast bzw. Zeitungsartikel – hier werden Themenüberblicke in Häppchenform dargeboten. Gehobenes Infotainment also, mit allen Vor- und Nachteilen der Gattung: rasche Information, aber dafür weniger Details und weniger Tiefgang.

Andreas Wirsching, Berthold Kohler, Ulrich Wilhelm (Hg.) – Weimarer Verhältnisse? Historische Lektionen für unsere Demokratie. Ditzingen: Reclam Philipp jun. Verlag, 2018. 119 S. ISBN 978-3-15-011163-5

 

 

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Klaus Berndl

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