Andreas Stichmann – Eine Liebe in Pjöngjang.
Ganz unaufgeregt: Andreas Stichmann hat einen klassischen Liebesroman geschrieben. Das ist so schön. Das Besondere daran ist a), dass es zwei Frauen sind, die sich ineinander verlieben, und b), dass die Verhältnisse, unter denen sie es tun, sehr besonders sind: Claudia Aebischer und Kim Sunmi, also BRD (ex-DDR) und Nordkorea. Stichmann aber ist Mann, ist BRD-gebürtig. Ja, geht denn das? Ja, das geht.
Muss ein:e Autor:in alles erlebt haben, worüber er/sie schreibt? Die Authentizitätsforderung wird berechtigterweise gestellt: Was erzählt wird, soll glaubwürdig sein. Aber das hat seine Grenzen. Muss ein:e Krimiautor:in morden, um sich in die Psyche eines Mörders hineinzudenken? (Mit welchem Recht kann man so eine Forderung erheben?) Polizist:in sein? Auf der anderen Seite steht, dass es durchaus Dinge gibt, die man nicht beschreiben kann, wenn man sie nicht erlebt hat. Mein Lieblingsbeispiel ist der Kuss: Die Berührung von Lippen kann sicher jede:r beschreiben – aber die Bedeutung dieser Berührung für die Küssenden erfassen? Dafür muss man schon selbst einmal geküsst, geliebt haben. Also ist auch die Frage gerechtfertigt, ob ein männlicher Autor sich in zwei Frauen hineindenken kann, die sich ineinander verlieben. Ob das gelungen ist, darüber kann ich mir als Mann wohl kein abschließendes Urteil erlauben – mir erscheint es sehr (!) gelungen.
Die Charakterisierung der Protagonistinnen geschieht ganz nebenbei, in die Handlung verpackt: So soll es sein; wunderbar. Die etwas herbe, abgeklärt-spöttische Claudia, die leidensfähige, aber überaus gewandte Sunmi. Man „schlittert“ in das Buch hinein, und es lässt einen nicht mehr los. Stichmann schreibt „eingängig“ im besten Sinne, strukturiert und spannend. Man überlässt sich ihm gern. Er springt zwischen den Perspektiven hin und her, also Westen und Osten, Ich- und Wir-Gesellschaft: zwischen ganz unterschiedlichen Seinsweisen. Das gelingt atemberaubend gut. Man versteht, wo die Mentalitätsunterschiede sind. Warum dies und das zwischen den beiden gut klappen kann und warum jenes und welches eben nicht funktioniert. Sie kommen sich recht schnell näher – man empfindet die „Liebe auf den ersten Blick“ sofort nach, egal, wer man ist – und damit beginnt für Claudia und Sunmi Versteckspiel, aber auch die Zukunftsplanung, was natürlich Fluchtplanung bedeutet. Und für die Leser:innen Spannung. Bis zur letzten Seite.
Homosexualität wird hier nicht problematisiert; hier wird einfach drauflos geliebt. Das ist schön, schön entspannt, und das macht das Buch zu einer so angenehmen Lektüre: Einmal einfach nur lieben können und die ganze Auseinandersetzung mit der Außenwelt beiseite lassen. Sie besteht hier „nur“ darin, mit den Zwängen eines totalitären Systems klarzukommen. Worin Sunmi natürlich geschickter ist als Claudia, auch wenn letzterer die DDR-Kindheit überaus hilfreich ist. Gelingt es ihnen? Und wenn ja, wie? Gespoilert wird nicht.
Das Buch hat es verdient, weiter rumzukommen, von mehr Menschen gelesen zu werden. Gerade auch von Heterosexuellen, gerade auch von Männern. Es lohnt sich. Das hier ist keine Randgruppenliteratur, das ist: Literatur. Nebenbei, Horizonterweiterung.
Auf der Favoritenliste von “Literatur des Monats – Ran ans Buch” für den August 2022, und jetzt auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.
Andreas Stichmann – Eine Liebe in Pjöngjang.