Anna Yeliz Schentke: Kangal. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2022.
Istanbul: Die Gezi-Park-Proteste, der Putsch. Mehr weiß „man“ hierzulande kaum. Schentkes Buch zeigt uns, wie sich eine Gesellschaft verändert. Wie sich erst die Vorsicht, dann die Angst in die Gespräche schleicht. Man begreift schnell: Wenn die Demokratie erodiert, betrifft das alle. Es geht nicht nur um ein Regierungssystem, es geht um die Freiheit. Die Freiheit selbst in der Freizeit. Und die Gefahr ist unmittelbar, sie ist spürbar, bei Schwentke.
Ungut dräut hierzulande die Erinnerung ans Dritte Reich herauf, an das, was man nur allzu gut zu kennen meint. Was lange überwunden scheint. Aber das hier ist lebendig, und es ist Gegenwart. Und es spielt nicht nur in der Türkei, es wirkt in den Fluchthafen Deutschland hinein. Und Schwentke gebührt das Verdienst, uns aufzuzeigen, wo die Frontlinien laufen: in der türkischen Gesellschaft, aber auch in der türkischen Community in Deutschland. Zwänge allerorten und in jede Richtung, sein Leben so zu führen, wie es die anderen wollen: Heirate! Halte deinen Mund! Ausgehen – geht nicht mehr. Es wird still in Istanbul. Munter, unbefangen diskutieren, ja, diskutieren überhaupt, geht nicht mehr: pass auf, was du sagst! Wo bleibt sie da, die junge Frau, die studieren möchte, die heimlich (!) studieren muss, statt zu Hause zu bleiben und hoffentlich bald mal für Kinder zu sorgen, die bestenfalls eine Ausbildung machen darf, um dann im Geschäft des Vaters mitzuarbeiten!
Zwei Drittel der türkischen Community in Deutschland sind also pro-Erdogan, und indem sie von hier aus Erdogan wählen, machen sie das Leben in der Türkei für die Türken unerträglich. Türk:innen in Deutschland sollen sich also abgrenzen von den Deutschen, sollen so leben wie Türken in der Türkei (angeblich leben). Warum sie dann in Deutschland leben: Die Frage wird denen gestellt, die diese Meinung vertreten, bleibt von ihnen aber unbeantwortet.
Erzählt wird in der Retrospektive. Vieles erschließt sich erst nach und nach, und das ist auch gut so; erzählte man es chronologisch, wäre wohl einiges vorhersehbar. So, in Bruchstücken aus den Perspektiven der Protagonist:innen, prallen immer wieder die Zeiten aufeinander. Warum reagiert Hilal so seltsam, als Dilek sie dafür bewundert, noch den Mut zu haben, so engagiert zu protestieren? Weil sie, als lesbische junge Frau, gar keine andere Wahl hat. Man sollte nicht so lange mit dem Protest warten, bis man gar keine andere Wahl mehr hat als zu protestieren. Viele kluge Sätze stehen in diesem Buch.
Das literarisch ebenso überzeugt, in jeder Hinsicht. Die Aufsplitterung ist gekonnt, der Ton wird immer getroffen, sodass es kein Problem ist, sich darin zurechtzufinden, auch in Verhörszenen. Die vielen türkischen Brocken: Ja, man möchte sie eigentlich verstehen, man wünscht sich ein Glossar – so bleibt man, als dem Türkischen nicht mächtige:r Deutsche:r, außen vor. Sicher wurde das zwischen Verlag und Autorin diskutiert. Es ist auch nicht verkehrt, die Sprachbarriere bestehen zu lassen, sodass es zu einer falschen Identifizierung erst gar nicht kommen kann.
So erschließt sich zwar, was die Wörter „Anne“ und „Baba“ bedeuten, aber das dauert. Welcher Personenname ist männlich, welcher weiblich? Der Verzicht auf Personenbeschreibungen – gerade auch im Äußerlichen – ist zwar immer noch modern, aber nicht besonders leserfreundlich.
Fazit: Eine besondere Leseerfahrung, ein beklemmendes Buch, das spürbar den Horizont erweitert – und das auf hohem literarischen Niveau. Beeindruckend.
Auf der Favoritenliste von “Literatur des Monats – Ran ans Buch” für den Juni 2022, und jetzt auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.